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Ich bin die, die niemand sieht

Ich bin die, die niemand sieht

Titel: Ich bin die, die niemand sieht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Berry
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Klassenraum schnell. Große Jungs kommen herein und klopfen Darrel auf die Schulter. Unter all den neugierigen Blicken beginne ich zu schwitzen. Hier und dort höre ich unterdrücktes Lachen. Reverend Fryes rothaarige Tochter Elizabeth kommt herein, bemerkt mich und sieht weg. Sie ist nur zwei Jahre jünger als ich, aber mir kommt es vor, als seien es ein Dutzend, so jung und schüchtern wirkt sie.
    Ich erschrecke, als der Lehrer in die Hände klatscht. »Ich hab’s.« Er stellt einen Stuhl direkt neben seinen eigenen. »Sie werden hier neben mir sitzen, sodass ich Sie direkt anleiten kann. Auf diese Weise müssen Sie auch nicht gemeinsam mit einem Tischnachbarn rezitieren. Sie müssen nicht bei den ganz Kleinen sitzen und auch nicht bei den Jungs in Ihrem Alter.« Er streicht einladend über die Sitzfläche.
    Mein Gesicht ist heiß und doch fühle ich mich wie eingefroren. Als ich zu seinem Pult gehe, spüre ich, wie mein Unterrock meine Beine streift. Das Rascheln des Stoffs scheint den gesamten Raum auszufüllen.
    »Guten Morgen, Schüler«, begrüßt Rupert Gillis die Klasse. »Wir alle wollen Master Darrel wieder in der Schule willkommen heißen. Und wir haben eine neue Schülerin. Entschuldigung.« Er lächelt verkniffen. »Master Finch, wie war noch gleich der Name Ihrer Schwester?«
    XVIII
    Den ganzen Vormittag starre ich auf meine im Schoß gefalteten Hände. Doch das schützt mich nicht vor den Blicken der anderen, die unablässig auf mich gerichtet sind, obwohl Mr Gillis durch den Raum geht und Rechenaufgaben auf die Schiefertafeln der Kinder schreibt. Als die Kreiden über den Schiefer quietschen, wage ich es, aufzublicken. Mehrere ältere Mädchen und Jungen aus den hinteren Reihen starren mich mit ausdruckslosen Augen an. Hier sitze ich also, neben dem Lehrerpult, als würde ich bestraft.
    Um mich abzulenken, betrachte ich das Pult. Viel zu sehen gibt es nicht. Ein Stapel Lesefibeln, ein Tintenglas, eine Schreibfeder, ein Lineal und ein Buch mit Landkarten. Seine Besitztümer sind so neutral wie er selbst.
    Dann setzt er sich neben mich und schenkt mir ein kleines Lächeln.
    »In Ordnung«, flüstert er und beugt sich zu mir. »Wollen wir anfangen?«
    Alle in der Klasse ziehen vielsagend die Augenbrauen hoch.
    »Als Erstes müssen wir herausfinden, was Sie schon wissen. Das wird vielleicht nicht ganz einfach, weil Sie es mir nicht, äh, sagen können. Aber uns fällt schon etwas ein.«
    Ich schäme mich zu Tode. Sein Verhalten ist skandalös und die zwanzig Schüler, die zusehen, wie er mir etwas zuflüstert, wissen das. Ich spüre seinen sauren Atem im Gesicht. Mein Wunsch, lesen zu lernen, wird mit jedem Augenblick schwächer.
    »Hier.« Er schreibt ein A auf die Tafel. Unter seinen Fingernägeln hat sich Blei angesammelt. »Wissen Sie, was das ist?«
    Ich nicke. Heute früh auf dem Schulweg habe ich überlegt, ob ich offenlegen soll, dass ich sprechen kann. Welchen geeigneteren Ort als die Schule gäbe es dafür? Aber der Lehrer ekelt mich an. Ihm werde ich mein Geheimnis nicht anvertrauen.
    Irgendwie überstehe ich den Vormittag. Er prüft mein Wissen über die Buchstaben und lässt sie mich auf einer zweiten Tafel abschreiben. Danach gibt er mir die einfachste Fibel und fordert mich auf, die erste Lektion im Kopf laut zu lesen. An. Ab. In. Ob. Es.
    Ich kann bereits viel mehr als das, aber es stört mich nicht. Ich bin froh, ganz am Anfang zu beginnen. Das Lesen ist es wert, richtig gelernt zu werden. Ich bin geduldig.
    Er schickt die Schüler in die Pause. Ich bin froh über die Gelegenheit, gemeinsam mit Darrel an dessen Tisch zu essen. Ich merke, dass er sich nicht wohl fühlt und immer noch Wundschmerzen hat. Zu Hause würde er sich jetzt hinlegen und ausruhen.
    Während die anderen mit dem Essen beschäftigt sind, flüstere ich ihm ins Ohr: »Wir kööhnnen nach Hhause gehen. Du kannst schlafen. Wir köhnnen morgen wiedherkommen.« Ich sehe ihn fragend an. Er wirkt hin- und hergerissen.
    »Willst du?«, flüstert er.
    Ich nicke.
    »Ich hole Mr Gillis.«
    Ich kann dem Lehrer leicht vermitteln, dass mein Bruder mit ihm sprechen will. Er hört Darrel zu und nickt.
    »Gewiss«, murmelt er. »Sie müssen langsam anfangen, bis Sie wieder mehr Kraft haben. Ich gebe Ihnen eine Aufgabe zum Lesen mit … hier. Diese Seiten eignen sich gut.«
    Ich hole unsere Mäntel und helfe Darrel beim Anziehen. Die anderen gehen jetzt hinaus und machen Schneeballschlachten, sodass unser Weggang nicht besonders

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