Ich bin die Nacht
anzuschauen. Maureen hatte immer nach Paris und Venedig gewollt, und Jacks großer Traum war Australien gewesen. Sie hatten gehofft, gemeinsam in Würde alt zu werden und sich die schlichten, harmlosen Freuden zu gönnen, auf die sie so viele Jahre verzichtet hatten. Nun waren ihre Kinder erwachsen, und sie hatten ihnen zu einem guten Start ins Leben verholfen. Ihre goldenen Jahre sollten ihnen selbst gehören – eine Zeit, in der sie das Leben genießen und sich am jeweils anderen erfreuen wollten.
Und heute?
Heute erschienen Maureen die Jahre des Sparens und Verzichts als verschwendete Zeit. Zum x-ten Mal kramte sie in ihrem Gedächtnis. Waren sie und Jack auch nur ein einziges Mal in einem schicken Restaurant gewesen? Hatten sie sich auch nur einmal einen schönen Abend gegönnt, ohne auf jeden Cent zu achten? Ihr fiel nichts ein.
Jacks Krebserkrankung hatte alle ihre Pläne zunichte gemacht. Könnte sie doch nur die Uhr zurückdrehen. Hätten sie doch mehr in der Gegenwart gelebt, als ständig auf die Zukunft hinzuarbeiten.
Tränen rannen Maureen über die Wangen. Sie wünschte sich, sie und Jack hätten die Zeit genossen, die ihnen gegeben war, statt so zu tun, als würde ihnen die Zeit niemals ausgehen. Sie tupfte sich die Tränen ab und versuchte sich von den alten Erinnerungen und der alten Reue zu lösen.
Mit einem versonnenen Lächeln blickte sie auf ein Familienfoto. Sie hatte zweiundzwanzig Enkel, die sie liebte und die einen bescheidenen Teil ihrer Zeit in Anspruch nahmen, die aber nie die Lücke füllen konnten, die Jacks Tod hinterlassen hatte. Das konnte nichts und niemand.
Maureen seufzte und nahm ein Taschenbuch vom Tisch. Sie las ein paar Seiten, doch sie war am Abend zuvor lange aufgeblieben, um sich im Fernsehen einen Film anzuschauen, und ihre Lider wurden schwer. Bald fielen ihr die Augen zu.
Ihr Kopf sank zur Seite, und sie versank in tiefen Schlaf, während das Buch zu Boden fiel.
***
Ein Mann mit kalten grauen Augen beobachtete die Frau mit dem silbrigen Haar durch das Küchenfenster. Die dunkle Seele hinter den Augen überlegte, wie sie sterben sollte.
Ackerman sah, wie die Frau auf den Stuhl ihr gegenüber blickte. Ihrem Verhalten entnahm er, dass sie ihren Mann erst kürzlich verloren hatte und sich nun niedergeschlagen und einsam fühlte. Auch wenn sie es nicht ahnte, war sie nicht mehr allein. Sie hatte Gesellschaft.
Sie tat ihm leid. Er wusste, dass es nur eine Frage der Zeit war, ehe sie sich ihrem Mann anschloss und in Vergessenheit geriet. Nur eine Hand voll Angehörige und Freunde würden ihr Dahinscheiden betrauern. Nach ein paar Jahren würde man nur noch an sie denken, wenn Familienmitglieder in alte Fotoalben schauten. Niemand außerhalb ihres kleinen Kreises würde je ihren Namen erfahren. Sie würde verschwinden, als hätte sie nie existiert.
Vergessen und verloren.
Das würde er ändern.
Dass er sich ganz in der Nähe ihres Hauses aufhielt, würde dafür sorgen, dass jeder in der Umgebung sich an die freundliche Seniorin erinnern würde, die dem sadistischen Mörder zum Opfer gefallen war. Eines Tages würden unzählige Bücher über ihn und seine Taten verfasst werden, davon war Ackerman überzeugt. Man würde ihn psychoanalysieren und sein Tun sezieren, und Amerikas Faszination für das Abseitige und Abgründige würde die Bücher über ihn auf die Bestsellerlisten katapultieren.
Die meisten Menschen würden ihn verabscheuen. Einige, die ihm ähnlich waren, würden ihn verehren. Aber alle, alle würden sich an ihn erinnern. In seiner Schändlichkeit wäre er unsterblich.
Und durch die Verbindung zu ihm würde man auch die Frau mit dem silbrigen Haar nicht vergessen. Vielleicht erhielt sie ihr eigenes Kapitel in einer Aufstellung seiner Taten, die noch geschrieben werden musste. Auch wenn die Frau – wie die unzähligen Opfer vor ihr – seine Gabe nicht zu schätzen wüsste, würde er ihr durch ihren Tod Unsterblichkeit schenken.
***
Im Schlaf registrierte Maureen ein Geräusch im Zimmer und erwachte, blinzelte die Spinnweben fort, die vor ihren Augen zu schweben schienen.
Sie war nicht vorbereitet auf das, was sie sah.
Ein Mann mit stechenden grauen Augen saß auf dem Stuhl ihres Mannes.
Maureen fuhr vor Schreck zusammen. Nur mit Mühe hielt sie einen Schrei zurück. Wer war dieser Mann? Was wollte er von ihr? Die Angst wurde mit einem Mal übermächtig. Ihre rechte Hand, die auf der Tischplatte lag, zitterte so heftig, dass die Vase mit den Lilien
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