Ich bin die Nacht
genommen. Wir werden spielen.«
»O Gott. Francis, du musst mir zuhören …«
Ackerman hörte Josephs Stimme an, dass der Pfarrer weinte, doch es verschaffte ihm merkwürdigerweise keinerlei Genugtuung.
»Warum musst du immerzu töten, Francis? Komm mir jetzt nicht mit den Märchen, die du deinen Opfern auftischst. Ich möchte den Grund wissen. Ich möchte es verstehen, Francis!«
Ackerman zögerte kurz und blickte auf sein Abbild im Spiegel über Alice’ Frisiertisch. Er stellte fest, dass auch ihm Tränen in die Augen getreten waren. »Weil ich mich nur dann wirklich lebendig fühle«, sagte er. »Ich kann den Schmerz nur vergessen, wenn ich weiß, dass Leben oder Tod eines Menschen in meiner Hand liegt. Ich empfinde Euphorie. Ich empfinde Transzendenz. Es ist das großartigste Gefühl, das man sich vorstellen kann. Ich kann nicht damit aufhören.«
»Francis, bitte … ich möchte dir helfen. Die Ärzte können dir helfen. Sie sagen, du hast auf die Therapie angesprochen, und dass du Fortschritte gemacht hast.«
Ackerman wischte sich die Tränen ab und setzte sich gerade. Ein finsterer Ausdruck trat in sein Gesicht. »Diese Ärzte wollten mir nicht helfen, sie wollten mich studieren. Sie wollten herausfinden, was mich antreibt. Ich bin es leid, das Versuchskaninchen zu sein.«
»Du tust den Ärzten unrecht. Sie sind anders. Sie möchten dir helfen, aber dazu müssen sie dich verstehen. Ich werde dich bei jedem Schritt begleiten, Francis. Und was deinen Vater angeht … er war ein kranker Mann. Du weißt, wieso er dir das alles angetan hat.«
»Oh ja, ich weiß, was mein Vater getan hat, und ich kenne auch den Grund. Das macht es umso schlimmer. Ich könnte eher akzeptieren, was er mir angetan hat, wenn ich ihn für einen schlechten Menschen oder einen Wahnsinnigen hielte, aber das war er nicht. Nicht im eigentlichen Sinn. Ich war eine psychologische Studie. Ein Experiment. So nannten sie mich – ›das Experiment‹. Ich war nur ein Versuchstier, eine Ratte im Labyrinth. Es war bloß ein Spiel. Das ganze Leben ist nur ein Spiel.« Er kratzte sich an den Narben, bis seine Fingernägel rot gesprenkelt waren.
»Da irrst du dich, Francis.«
»Ach, wirklich? In welcher Hinsicht?«
»In Bezug auf deinen Vater. Nichts, was ich sagen könnte, wird die Vergangenheit auslöschen, aber eines weiß ich mit Sicherheit.«
»Ich höre.«
»Dein Vater hat dich nicht für seine Forschungen missbraucht. Er hat es getan, weil er ein kranker Mann war – und so schlecht, wie ein Mensch nur sein kann. Aber wir alle tragen Böses in uns, und wir können es nicht allein bekämpfen, deshalb …«
»Sie glauben wirklich noch an Gut und Böse?«
»Selbstverständlich. Es besteht immer ein Gleichgewicht. Himmel und Hölle. Engel und Dämonen. Licht und Finsternis. Gut und Böse. Doch an der Oberfläche erscheinen diese Dinge oft nicht säuberlich getrennt. Guten Menschen widerfahren schlimme Dinge und schlechten Menschen Gutes, aber es gibt für alles einen Grund. Gott hat für uns alle seinen Plan …«
»Schon gut, Father«, unterbrach er den Geistlichen. »Ich muss jetzt Schluss machen.«
Er legte auf und dachte eine Zeit lang über Vater Josephs Worte nach. Dann ging er in die Küche und setzte sich Alice gegenüber an den Tisch.
Er erfreute sich an ihrer schlichten Schönheit und fragte sich, welche Hässlichkeit auf der Welt existieren musste, um solche Strahlkraft auszugleichen. In ihrer Bewusstlosigkeit wirkte sie wie in tiefem Frieden.
Doch sie würde bald erwachen, und ihr Friede würde verblassen wie ein Traum, der im Äther zwischen den Welten aus ihrem Gedächtnis gelöscht worden war.
Und dann wäre es Zeit für das Spiel.
22.
Als Alice Richards erwachte, stellte sie fest, dass ihr Leben sich in ein gewalttätiges Zerrbild der Wirklichkeit verwandelt hatte. Die Monotonie ihres Alltags erschien ihr mit einem Mal paradiesisch im Vergleich zur grauenhaften Gegenwart. Auch wenn sie die entsetzliche Tortur überleben sollte, die ihr bevorstand, würde die Welt für sie nie mehr der gleiche Ort sein wie zuvor. Sie könnte nie mehr ohne Angst in die Dunkelheit blicken. Sie würde sich nie wieder sicher fühlen.
Alice konnte die Augen nicht länger vor der Wahrheit verschließen. Sie wusste nun, dass ihre kleine heile Welt eine Illusion war und dass sie stets von der Gnade der Wölfe abhängig wäre. Raubtiere, die gleich hinter der Schwelle ihres glücklichen Zuhauses lauerten. Wenn sie ihnen auch nur die
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