Ich bin die Nacht
Angst umso schlimmer. Dieser Kerl wirkte nicht menschlich, sondern dämonisch.
»Wie heißen Sie?«, fragte er.
Alice zögerte.
»Ihr Name«, sagte er, noch immer ganz ruhig.
»Alice …«
»Willkommen im Wunderland, Alice.« Er blickte sich in der kleinen Küche um und nickte beifällig wie ein alter Freund. »Schön haben Sie es hier. Einfach, aber trotzdem nett. Hier kann man sich wirklich wie zu Hause fühlen.« Er redete, als würden sie sich gleich auf eine Tasse Kaffee an den Tisch setzen.
Dann schaute er ihr tief in die Augen und fuhr in ernstem, aber beruhigendem Tonfall fort: »Ich beneide Sie darum, dass Sie sich ein Zuhause schaffen konnten. So etwas besaß ich nie, und ich nehme an, dass ich es auch nie besitzen werde.«
»Wer sind Sie?« Alice’ Stimme bebte, aber sie zwang sich diese Worte ab.
Er schien ihre Fragen sorgfältig abzuwägen. »Verzeihen Sie mein Benehmen. Mein Name ist Francis Ackerman junior.«
»Und was wollen Sie? Bitte, ich …«
»Was ich will? Ich will, dass die Welt einen Sinn ergibt. Ich habe immer gedacht, es gibt keine Antworten. Das nichts eine Bedeutung hat. Dass unsere Existenz sinnlos ist. Doch nun bin ich mir nicht mehr so sicher. Manchmal frage ich mich, ob wir allein durch die Dunkelheit ziehen. Aber es gibt auch Augenblicke, in denen ich mich frage, ob ich der Einzige bin, der im Dunkeln existieren muss.« Er schwieg kurz; dann fuhr er fort: »Aber ich bin mir sicher, was ich tun werde. Ich werde Sie von der Qual erlösen, in Mittelmaß und Dunkel zu leben. Ich werde Sie befreien.«
Sie schluchzte. »O Gott, bitte …«
»Gott?«, unterbrach er sie. »Es gibt keinen Gott. Ich bin jetzt Ihr Gott. Ich gebe und ich nehme.«
War diesem Mann denn gar nichts heilig? In Alice loderte Wut auf. Ihre Augen wurden hart, und das Zittern ihrer Hände verebbte. »Es gibt einen Gott«, entgegnete sie mit fester Stimme, »und das werde ich Ihnen beweisen.«
Beim letzten Wort stieß sie mit dem Messer nach ihm.
Ackerman wich dem Angriff aus, packte ihren ausgestreckten Arm und schlug ihr mit dem Handrücken ins Gesicht.
Alice prallte gegen die Wand und ließ das Messer fallen, ging aber nicht zu Boden. Stattdessen schüttelte sie die Benommenheit ab und stürzte aus der Küche auf den Flur. Ihre einzige Hoffnung auf Rettung befand sich im Schlafzimmer, versteckt unter der Matratze.
Der Revolver.
Alice bewegte sich schneller, als sie es für möglich gehalten hatte. Sie bog um die Ecke ins Schlafzimmer, huschte zum Bett, schob die Hand unter die Matratze und zog den Revolver hervor. Jetzt hieß es töten oder getötet werden. Sie hatte keine Scheu vor dem, was sie nun tun würde, tun musste.
Mit vorgehaltenem Revolver wirbelte sie herum.
Der Mann hatte sie fast erreicht.
Alice richtete die Waffe auf seine Brust, kniff die Augen fest zusammen und drückte ab.
Nichts.
Zögernd schlug sie die Augen auf und starrte in das grinsende Gesicht des Killers. Verwundert senkte sie den Blick auf ihre Hand und entdeckte, dass er die Waffe gepackt, den Finger hinter den Abzug geschoben und auf diese Weise verhindert hatte, dass der Hammer auf die Patrone schlug.
»Ich sagte doch, es gibt keinen Gott.« Der Mann lachte auf. »Süße Träume, kleines Lamm.«
Er riss ihr die Waffe aus der Hand und schmetterte sie ihr ins Gesicht. Alice spürte nicht mehr, wie ihr Körper auf dem Boden aufschlug.
20.
Er war wieder in New York, war wieder Cop. Die Zeit, die Vergangenheit und Gegenwart getrennt hatte, schien verronnen zu sein wie Sand in einer Sanduhr. Die Geschehnisse zwischen seiner letzten Nacht als Polizist und dem heutigen Tag erschienen ihm wie flüchtige Erinnerungen aus einem anderen Leben, das er in einem Traum verbracht hatte.
Marcus war ein junger Kriminalbeamter beim Morddezernat gewesen, der eine bizarre Verbrechensserie untersuchte. Dann verschwand mit einem Mal Beweismaterial, und seine Vorgesetzten befahlen ihm, die Ermittlungen einzustellen. Doch Marcus war nie ein Mensch gewesen, der einfach aufgab. Er entdeckte ein Muster in den Wahnsinnstaten des Killers und folgte den Hinweisen, die er selbst ermittelt hatte.
Dann kam jene Nacht in einer düsteren Seitenstraße.
Ein Schrei zerriss die Luft.
Marcus erstarrte. Die Straße verwandelte sich vor seinen Augen. Die Gebäude verbogen und verzerrten sich zu widersinnigen Gebilden. Die Wände verwandelten sich in schwarzen Obsidian, der scharfe Kanten besaß wie eine Milliarde winzige Rasierklingen. Die Straße
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