Ich bin die Nacht
kleinste Gelegenheit bot, die Unantastbarkeit ihrer Zuflucht zu verletzen, würden sie ihr alles rauben, was ihr etwas bedeutete.
Ihr Kopf schmerzte von dem Hieb Ackermans, und sie brauchte einen Moment, bis ihr verschwommener Blick sich klärte. Doch was sie dann sah, füllte ihr Herz mit Verzweiflung.
Sie saß am Küchentisch. Ihre Kinder ebenfalls, an ihren gewohnten Plätzen. Ackerman hatte sie geknebelt und an ihre Stühlchen gefesselt.
Der Irre selbst, der ihren Ehemann auf dem Gewissen hatte und jetzt höchstwahrscheinlich plante, auch sie und ihre beiden Kinder zu töten, saß ihr gegenüber.
»Hallo, Alice«, sagte er, als wäre er ein geliebtes Familienmitglied. »Sie sind wirklich bildhübsch, wenn Sie schlafen. Ich wette, Ihr Mann hat sich nie die Zeit genommen, Ihre Schönheit zu würdigen oder auch nur zu bemerken. Ich würde sogar wetten, dass es an Ihnen noch viel mehr gibt, was er nie zu schätzen wusste.«
Alice zitterte am ganzen Körper. Noch nie hatte sie eine solch mörderische Wut verspürt. Sie machte auch gar nicht erst den Versuch, ihren Zorn zu verbergen. Im Gegenteil, der Anblick ihrer Kinder und die Kaltblütigkeit, die der Mörder ihres Mannes an den Tag legte, stachelten sie auf. Dieser Wahnsinnige führte sich auf, als wäre er ihr Freund und Vertrauter und nicht der Zerstörer ihres Lebens und ihres Zuhauses.
Im Unterschied zu ihren Kindern war Alice nicht an den Tisch gefesselt, aber sie wusste, dass sie dem Verrückten nicht gewachsen war. So blieb ihr nichts anderes übrig, als bebend vor Wut, Hass und Angst dazusitzen und darauf zu warten, was dieser Psycho mit ihnen vorhatte.
»Die Welt ist schon merkwürdig, was?«, fuhr Ackerman fort. »Es gibt schreckliche Grausamkeit und tiefes Mitgefühl, furchtbare Tragödien und riesige Freude, tiefste Verderbtheit und größte Schönheit. Ich habe mich nie als verderbt oder böse betrachtet. Vielleicht besteht mein Daseinszweck darin, das Gleichgewicht herzustellen. Vielleicht bin ich einfach nur die dunkle Seite der Gleichung. Aber ich möchte Sie nicht mit meiner persönlichen Sinnsuche langweilen und mich über mein Schicksal auslassen, zumal es ja Ihr Schicksal ist, um das es hier geht.«
Er rieb sich die Hände. Alice fiel das Narbengewebe auf, von denen sie überzogen waren. »Da ich in einer solch wohlwollenden philosophischen Stimmung bin, biete ich Ihnen die einzigartige Gelegenheit, um Ihr Leben und das Ihrer Kinder zu spielen.«
»Zu spielen? «, stieß Alice fassungslos hervor.
»Ganz recht.« Ackerman nickte. »Normalerweise spiele ich mit meinen Opfern nur, wenn ich mir sicher bin, dass das Spiel unausweichlich zu einem für mich befriedigenden Ende führt. Ihnen jedoch biete ich eine echte Chance, sich selbst und Ihre Kinder zu retten. Ich hatte sogar mit dem Gedanken gespielt, euch in Ruhe zu lassen, aber so viel Gnade entspricht einfach nicht meiner Natur. Letzten Endes muss man sich treu bleiben, meinen Sie nicht auch?«
Alice riss die Augen auf, als ihr klar wurde, welches entsetzliche Schicksal dieser durchgeknallte Mörder ihr zugedacht hatte. Trotz der Gelassenheit und scheinbaren Ruhe Ackermans hatte sie den primitiven Hass und die Zerstörungswut gesehen, die in ihm brodelten. Sie kannte die wahre Natur dieses Mannes. Wenn sie ihn anblickte, schaute sie durch die Fassade hindurch und sah das Monster in ihm.
»Aber ich rede mal wieder zu viel. Also, wie wär’s mit einem kleinen Spielchen?«
23.
Das Farmhaus glich einer Oase in der Wüste. Es war ein schmuckes, zweistöckiges Gebäude mit umlaufender Veranda und einer Art Turm, der aufragte wie der Bergfried einer mittelalterlichen Burg.
Das gesamte Anwesen wirkte im ländlichen Süden von Texas deplatziert, doch Marcus hatte keinen Blick für die architektonischen Einzelheiten. Er brauchte Hilfe, und die Bewohner dieser Farm waren seine einzige Chance.
Er näherte sich den Gebäuden mit Vorsicht, da es auf dem Grundstück einen Wachhund geben konnte. Außerdem reagierten die Menschen in dieser Gegend bisweilen ziemlich rabiat auf vermeintliche Eindringlinge. Er ging zur Vordertür und klingelte.
Ein großer Mann öffnete ihm. Marcus schätzte ihn auf Anfang sechzig. Er hatte grauweißes Haar, einen kurzen Bart und trug eine Brille, die ihm tief auf der Nase saß. Er wirkte kultiviert und gebildet – die Sorte Mann, die in einem alten Sessel am Kaminfeuer ein Buch liest.
Der Mann blickte Marcus an, der im Schein der Verandalampe stand. »Kann ich
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