Ich bin ein Mörder
Kleinkind im Wagen, die die Schiffe beobachtete. Das Kind, das an einem Hörnchen nuckelte. Alle mit sich selbst beschäftigt.
Am Ende der Brücke blieb er vor der Treppe stehen, um zurückzublicken. Er war bereit, sich in Geduld zu üben, wie es das Buch lehrte. Es gab für alles den richtigen Moment. Die Wolken rissen auf, entließen einen einzelnen Lichtstrahl zur Erde, der die Brückenmitte traf. Das Kind fuchtelte mit dem Hörnchen, das ihm aus der Hand fiel und zwischen den Stäben in die Tiefe stürzte. Vorbestimmung. Ein weiteres Zeichen, dass er dem richtigen Herrn folgte. Es sollte so sein. Seine Hände schwitzten. Er konnte es kaum erwarten. Gleich war es so weit. Er war dazu ausersehen, es zu tun. Jetzt.
»Ich folge deinen Spuren, Herr«, flüsterte er und schmiegte sein Gesicht an den warmen Stoff des Pullovers. »Wirst du merken, dass ich es für dich tue?«
Langsam setzte er einen Fuß vor den anderen, verfiel in leichten Trab, beschleunigte seine Schritte. Die Augen unter der Kapuze strahlten, als er sich seinem ahnungslosen Opfer näherte.
* * *
Alexandra hängte das Funkgerät zurück in die Halterung, stieg aus dem Wagen und hielt nach Mischa Ausschau. Die Nachricht verursachte ihr ein unangenehmes Kneifen in der Magengrube. Wie immer, wenn es um den Fund einer Leiche ging. Bei dieser waren die Begleitumstände besonders makaber. Sie seufzte. Eigentlich war es höchste Zeit für eine kurze Pause und einen Imbiss. Daraus würde nun nichts werden.
Zu ihrer Erleichterung kam Mischa gerade mit den Einkäufen aus der Kleinmarkthalle, sein Funkgerät hing entgegen der Vorschrift nicht an seinem Gürtel. Ihr Magen knurrte. Leiche hin oder her, sie hatte Hunger, und allein bei dem Gedanken an den Inhalt der Tüte in Mischas Händen lief ihr das Wasser im Mund zusammen. Heiße Fleischwurst, Senf und frische Brötchen. Besser als hier schmeckte das nirgendwo. Sie gab Mischa ein Zeichen, sich zu beeilen.
»Wir haben einen Einsatz! Da liegt eine Leiche auf einem Frachter.« Sie bemühte sich trotz der Dringlichkeit um einen sachlichen Ton. »Ein Mann wurde von der Brücke gestoßen. Ist gerade eben passiert.«
»Scheiße. Sollen wir uns drum kümmern?«
»Nein, ein Team ist schon vor Ort. Aber wir fahren das Mainufer und die Gegend um die Brücke ab. Vielleicht findet sich was Verdächtiges. Der Täter soll auf unsere Seite gerannt sein.«
Mischa warf Alexandra die Plastiktüte zu, rutschte auf den Fahrersitz und schloss den Gurt.
»Gibt es eine Täterbeschreibung? Zeugen?«
»Bisher nur ein Zeuge, der unten auf dem Frachter stand. Oben auf der Brücke hat das anscheinend keiner mitgekriegt.«
»Und die Beschreibung?«
»Sehr vage. Keine vernünftige Größenangabe, ist von da unten auch nicht zu machen. Dunkler Kapuzenpullover, blau oder schwarz. Möglicherweise noch eine Kappe, ebenfalls dunkel. Vermutlich männlich, wegen der Kraft, die nötig ist.«
»Super. Die Beschreibung passt auf jeden zweiten Jugendlichen. Warte – welche Brücke, sagtest du?«
Sie wusste, woran Mischa denken würde, wenn sie es ihm sagte. Sie selbst hatte auch sofort daran gedacht. Tobias musste diesen Quatsch unbedingt jedem auf die Nase binden. Aber nicht jeder konnte darüber lachen. Im Augenblick fiel es ihr selbst schwer.
»Der Eiserne Steg«, murmelte sie und guckte aus dem Fenster. Sonne. Unpassend irgendwie. Nieselregen hätte besser zu ihrer plötzlich verhagelten Stimmung gepasst. Mischa warf ihr einen raschen Blick zu.
»Eiserner Steg. Am helllichten Tag. Hab ich das nicht schon mal gehört? Zwar gab es bei der Geschichte weder Zeugen noch einen Frachter, aber …«
»Er hat das nicht getan!«
»Er trägt häufig Kapuzenpullover …«
»Wieso sollte er das machen?«
»Keine Ahnung. Ich kann mich nicht in seinen Kopf hineinversetzen. Um die Publicity anzuheizen? Vergiss es, Alexandra. Eigentlich glaube ich das auch nicht. Die Neuauflage eines Mordes, den er schon begangen hat, ist nicht sein Stil. Zu billig.«
»Mischa! Er ist kein Mörder. Das ist nur …«
»… ein Spiel? Mord ist kein Spiel. Und wer eines daraus macht, ist in meinen Augen ein Verbrecher.«
»Fiktion. Ein Roman. Hör auf, das durcheinanderzuwerfen! Du hast das Buch doch nicht einmal gelesen.«
Er antwortete nicht darauf.
Langsam fuhren sie die Uferstraße des Mainkais entlang. Ein Team vom 9. Revier auf der gegenüberliegenden Mainseite versuchte, die Schaulustigen in Schach zu halten und die Stelle zu finden, wo
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