Ich bin ein Mörder
sei er wohl schon immer gewesen. Belastet mit einem tief sitzenden Identitätsproblem, das sogar dazu geführt hatte, dass er seinen Namen ändern ließ und den Geburtsnamen der Mutter annahm. Nach dem verhängnisvollen Manöver war er als Soldat nicht mehr zu gebrauchen – untauglich. Der Gutachter ließ daran keinen Zweifel. Er wurde aus dem Dienst entlassen, man bot ihm psychologische Betreuung und Hilfe an, die er jedoch kategorisch ablehnte.
Neumaier schauderte. Fast fünf Tage in einem dunklen, kalten Loch. Gefangen, geprügelt, gedemütigt. Niemand da, der ihn vermisste, der ihn suchte. Der pure Zufall rettete sein Leben. Sein Überleben. Aber zu welchem Preis? War aus dem Opfer von damals ein Täter geworden? Ein Mörder? Welchen Grund konnte es geben, einen wildfremden Menschen zu töten?
Eine plötzliche Angst schnürte ihm die Kehle zu. Fünf Tage. Er tastete in seiner Tasche nach den Herztabletten. Markus war vor fünf Tagen zuletzt zu Hause gewesen.
* * *
»Ich verstehe Ihren Ekel nicht. In Ihrem Bücherregal stehen Gedichtbände. Sie sollten etwas von Poesie verstehen. Was kann poetischer sein, als das Ende eines Lebens zu begleiten, zu sehen, wie es den Körper verlässt, und diesen Augenblick mit allen Sinnen festzuhalten. Nichts anderes ist es, was ich tue.
Wozu die Grausamkeit, die Schmerzen, das Blut? Nein, das hat nichts mit Barbarei zu tun – im Gegenteil. Heißt es nicht, es wird uns erst bewusst, was wir haben, wenn wir es verlieren? Diese erbärmlichen Wesen bekommen genau das von mir! Ehe sie abtreten, spüren sie noch einmal das Leben. Das Leben! Glauben Sie mir, keiner von ihnen wusste es vorher richtig zu schätzen! Ein furioser Abgang, bei dem man den Körper, den man zurücklässt, in jeder Einzelheit wahrnimmt. Intensiv wie nie zuvor. Das Leben fühlt und den Schmerz, den Schmerz und dann nur noch den Schmerz, der es leicht macht, loszulassen.«
Mischa legte das Buch beiseite. Das Leben spüren. Er erinnerte sich genau, wie sehr er das Leben gespürt hatte, Freitagnacht. Und ihm war klar, wem er dieses Erlebnis verdankte. Auch ohne Beweise. Vor einer halben Stunde hatte Ozzy sich gemeldet.
»Hey Mischa, ich bin mit den Analysen durch!«, verkündete er vergnügt. »Genau wie ich dachte, Hauptbestandteil war das Gift der Pulsatilla. Das ist eine Heilpflanze, die in der Homöopathie verwendet wird. Schwein gehabt. Ich dachte erst, es sei Goldregen pur, aber da war nur eine winzige Menge Cytisin. Kombiniert hat er das mit … warte, was haben wir denn noch alles: Glykoside, Digitaloide, Alkaloide … Sieht aus wie Pfaffenhütchen; das ist nicht ganz so spaßig. Die Wirkung setzt zeitverzögert ein, sodass dich das eine zu beuteln beginnt, wenn das andere aufhört. Gemein, aber gut gemacht, muss ich sagen. Der Kerl hat echt was drauf und echt einen Dachschaden.«
»Aber das macht ihn nicht automatisch zum Mörder.«
»Nein. Schließlich lebst du noch. Die Substanzen zu beschaffen, ist nicht besonders schwer. Sind beliebte Gartenpflanzen. Du musst nur rausgehen und sie pflücken. Beim Goldregen, zum Beispiel, sind sämtliche Pflanzenteile giftig, auch wenn man sie trocknet. Und herauszufinden, wie man sie anwendet, ist auch kein großes Problem.«
»Ein Hoch auf das Internet?«
»Du sagst es.«
»Aber er hätte mich umbringen können, mit dem Zeug?«
»Hätte er, alles nur eine Frage der Menge. Man muss extrem vorsichtig sein bei der Dosierung, oder man nimmt den möglichen Exitus in Kauf. Wäre natürlich auch denkbar, dass einer einfach hirnlos ist und so einen Mix auf gut Glück zusammenrührt, was ich bei Stockmann allerdings ausschließe. In Ermangelung eines anderen Verdächtigen, tippe ich daher auf Perfektion.«
Ohnmächtiger Zorn packte Mischa, als er das Gespräch beendet hatte. Ozzy war äußerst zufrieden, aber ihm nützte das alles wenig. Keinerlei greifbare Beweise. Einmal mehr fixierte er den Boxsack. Auch wenn er es nicht zugeben wollte, fehlte ihm immer noch ein Teil seiner Kraft. Es war unvernünftig gewesen, sich am Sonntag nicht krank zu melden. Idiotisch, so zu tun, als sei er voll einsatzfähig. Der vergangene Nachtdienst hatte ihn geschlaucht wie nie zuvor. Nur keine Blöße geben. Alexandra hatte genug gesehen von seiner hilflosen Schwäche.
»Blödes Arschloch.«
Ausnahmsweise meinte er nicht Stockmann damit.
Dennoch war der allgegenwärtig. Mischa starrte auf das Buch. Woran glaubst du , wisperte es. Noch ein Grund mehr, sich Stockmann
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