Ich bin ein Mörder
und auch den Vater unerreichbar, auf bayrischem Territorium in Unterfranken. Dank der perfekten Autobahnanbindung nur eine gute halbe Stunde Fahrt entfernt.
Alexandra stieg an der Endstation der U6 in der Heerstraße aus. Die Sonne verzog sich hinter den Wolken und erste dicke Tropfen schlugen auf das Pflaster. Fröstelnd klappte sie den Kragen ihrer Jacke hoch. An einen Schirm hatte sie mal wieder nicht gedacht. Sie warf einen raschen Blick auf die Gleise und sprintete bei Rot über die Straße. Direkt gegenüber bot eine lang gestreckte Wohnanlage ein wenig Schutz. Drei Stockwerke, Flachdach, Beton pur, mit dem Charme eines Billigmotels an der Autobahn. Dahinter schlossen sich Gärten und zahllose Reihenhäuser der ersten Generation an. Für die sogenannten May-Bauten war der Stadtteil in den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts sogar berühmt geworden. Sie rümpfte die Nase. Architektur war nicht gerade ihr Fachgebiet, und mit dem puristischen Bauhaus-Stil konnte sie sich nicht anfreunden. Hasenkästen. Mieterschließfach. Da fehlte es ihr eindeutig an Wärme und Gemütlichkeit.
Alexandra wischte sich mit dem Ärmel übers Gesicht. Nur noch ein paar Minuten zu Fuß. Trotzdem würde sie völlig durchnässt ankommen. Der plötzliche Schauer gab sich alle Mühe. Wasser schwappte in ihre Turnschuhe und die Jeans klebte auf der Haut. Ihr Bruder wohnte abseits der Hauptverkehrsstraße in einer Sackgasse. Eine ruhige Nachbarschaft, die nur das gleichmäßige Rauschen der Autobahn störte. Alexandra versenkte die Hände in den Taschen und zog die Schultern hoch, während sie an liebevoll herausgeputzten Einfamilienhäusern vorüberschritt. Parkplätze Mangelware, die Bürgersteige nur angedeutet, so schmal, dass man hintereinander laufen musste, und einen Kinderwagen konnte man zwangsläufig nur auf der Straße schieben. Ein Manko, mit dem ihr Bruder und ihre Schwägerin sich inzwischen arrangiert hatten. Das Haus war trotzdem ein Schnäppchen. Solide, erschwinglich, groß, wovon auch Jörg nun schon seit einiger Zeit profitierte.
Jörg. Noch so ein leidiges Thema, das sie mit ihrem Bruder nicht erörtern wollte. Hier und jetzt ging es um etwas ganz anderes. Sie brauchte seine Hilfe und seine beruflichen Verbindungen. Einzig seine Neugier konnte ein Problem werden. Viele Informationen wollte sie nicht preisgeben. Da musste er durch.
Sie warf einen Blick auf die Uhr, gutes Timing; sie war zuversichtlich, ihn alleine anzutreffen. Stürmisch betätigte sie die Klingel und erwartete ihn mit strahlendem Lächeln.
»Hallo Jens.«
»Schwesterlein! Was verschafft mir die Ehre?«
»Ist Jörg da?«
Finster runzelte er die Stirn. »Nein. Und wenn du seinetwegen kommst, muss ich dir sagen …«
»Gar nichts musst du. Ich will mit dir alleine reden und sicher sein, dass er nichts davon erfährt. Seine Einmischung kann ich nicht gebrauchen.«
»Dann herein mit dir. Frau und Kind sind auch nicht da. Mein brüderlicher Rat sowie mein Badezimmer und ein Handtuch stehen dir also uneingeschränkt zur Verfügung.«
»Polizeiliche Hilfe brauche ich auch.« Sie schlüpfte aus den Schuhen und hängte die triefende Jacke über die Heizung.
»Hast du was verbockt? Brauchst du politisches Asyl, so wie damals nach der Studentendemo?«
»Depp. Eine Information aus dem Freistaat Bayern, zu der du als Grenzgänger vermutlich Zugang hast.«
»Schieß los.«
Auf Socken trabte sie ins Bad und zog ein Handtuch aus dem Schrank, um sich die Haare trocken zu reiben. Er folgte ihr erwartungsvoll.
»Es geht um eine vermisste Person.« Sie entschloss sich nach kurzem Zögern, auch die Hose und die Socken abzulegen.
»Kein Thema. Finde ich für dich.«
Jens reichte ihr eine Wolldecke und sie platzierte sich mit angezogenen Beinen auf einem Sessel.
»Nicht so hastig. Ich habe keinen Namen, keine Adresse, kein genaues Datum, nur eine ungenaue Beschreibung und ein paar Informationen über sein Umfeld.«
»Klasse. So wünscht man sich das doch. Du kannst es nicht auf die einfache Tour, oder? Es muss immer kompliziert sein.« Er verschwand in der Küche.
»Das Leben ist kompliziert. Versuchst du es trotzdem?« Sie hörte das Brummen der Mikrowelle.
»Logisch. Aber das kostet dich was.«
»Was?«
»Moralische Kurskorrektur.« Mit einer Tasse heißer Milch mit Honig kam er zurück und hockte sich neben sie auf die Armlehne des Sessels. »Ich bin dein großer Bruder und ich bin Jörgs Freund. Und weder blind noch blöd. Du wirst damit
Weitere Kostenlose Bücher