Ich bin ein Mörder
Augen. Ihr Geist war nicht mit ihrem Körper mitgewachsen. Dadurch hatte ihre Aussage über den Teufel, der vielleicht der Mörder war, wenig Aussicht ernstgenommen zu werden. Alexandra konnte höchstens Schaden anrichten und ihr noch mehr Angst einjagen.
Im Augenblick schien Ruth sich allerdings nicht mehr zu fürchten. Ihr Mund über dem breiten Doppelkinn lächelte. Für Mischa. Der neben ihr stand und mit ihr sprach; ihr weiter die gleiche freundliche Höflichkeit entgegenbrachte, ihr Aufmerksamkeit schenkte. Für so etwas gab es keine Ausbildung. Das kam aus dem Bauch – man konnte es, oder eben nicht.
Aus Alexandras Jackentasche ertönte ein kratziger Funkspruch. Sie nahm den neuen Auftrag entgegen, ohne sich abzuwenden, dann gab sie Mischa ein Zeichen.
»Du warst echt gut.« Während sie die Treppe hinuntergingen, schaute sie ihn von der Seite an. »Hast das erste Mitglied für deinen eigenen Fanclub sicher.«
»Ruth ist ein armes Wesen.« Mischa wirkte mitgenommen, erschöpft. Alexandra riss mit Schwung die Haustür auf.
»Sie habe ich nicht gemeint.« Grinsend verpasste sie ihm einen Schubs mit der Faust auf die Nase. »Sondern mich!«
Dienstag, 06. November
Er freute sich darauf, den Jungen zu sehen. Seine Schritte knirschten auf dem Kies, als er den Hauptweg verließ und sich dem Brückenpfeiler auf der Nordseite der Untermainbrücke näherte. Niemand nahm Notiz von ihm. Keine der Mütter auf dem Spielplatz ahnte, was der Mann mit dem Overall hinter der Tür versteckte, auf die er zusteuerte. In der Hand trug er einen Werkzeugkasten. Ein normaler Anblick. Pfeifend stieg er die Sandsteinstufen hinauf und steckte den Schlüssel ins Schloss. Ein wohliger Schauer überlief ihn beim Betreten des engen dunklen Raumes. Eine gute Woche hatte er noch, ehe wieder jemand hier hereinkommen musste. Neben der Umspannanlage war gerade genug Platz für seine Zwecke. Es wäre noch besser gewesen, den Jungen direkt im Innern des Eisernen Stegs unterzubringen. So viel passender, das eine Verbrechen auch räumlich mit dem anderen zu verbinden. Aber dort konnte der Bursche sich nicht mal hinsetzen. Es war ihm leicht gefallen, den Mann von der Brücke zu stoßen. Nur ein Fremder, eine Berührung im Vorübergehen. Doch dem Jungen hatte er in die Augen gesehen, ihn weinen gehört. Er konnte ihn unmöglich zwingen, die ganze Zeit zu stehen. So weit war er noch nicht.
Er richtete den Strahl der Lampe in den hintersten Winkel. Dort hockte er, zusammengekauert und gut verschnürt und glotzte erschreckt ins Licht.
Unwillkürlich musste er kichern, als er die angetrocknete Pfütze bemerkte. Fremde Angst. Es fühlte sich unsagbar gut an. Die Stahltür schlug hinter ihm zu. Ein hässlich lautes Geräusch in der gedämpften Stille, die den Wartenden die ganze Zeit umfangen haben musste.
»Hallo Junge«, flüsterte er, »ich bin wieder da.«
* * *
Der Blick durch das Fenster wurde durch ein buntes Graffiti erschwert. Alexandra nahm die Schmiererei nur am Rande zur Kenntnis. Viel gab es auf dem Weg nach Praunheim ohnehin nicht zu sehen. Sie lehnte den Kopf gegen die Scheibe und schloss für einige Minuten die Augen. Die U-Bahn zu nehmen, war für ihren Geschmack bequemer im Stadtverkehr, als sich mit dem Auto ins Getümmel zu stürzen. Von der Parkplatzproblematik mal ganz abgesehen. Außerdem verbrachte sie dienstlich so viel Zeit hinter dem Steuer, dass sie das Rütteln und Schaukeln als entspannende Abwechslung empfand.
Die beiden unblutigen Roman-Morde gingen ihr nicht aus dem Sinn. Dabei war ihr ein Indiz aufgefallen, das vielleicht eine Überprüfung lohnte. Dazu musste sie jetzt ihren Bruder befragen. Den Abtrünnigen. In Gedanken grinste sie in sich hinein. Jens vertrug das enge Zusammenglucken der Familie nicht. Zu allem Überfluss war er als junger Polizist in Conrad Neumaiers Wirkungskreis gelandet. Das hatte die brodelnde Suppe der gefühlten Überwachung zum Überkochen gebracht. Ihn als Vorgesetzten ständig im Genick zu haben, führte zu einem schwelenden Konflikt, der irgendwann eskalierte, weil die jeweilige Autorität nicht anerkannt und die Beziehung nicht auf Dienstliches beschränkt werden konnte. Ihr Vater erkundigte sich überdies gerne wohlmeinend über die Entwicklung des Sprösslings und gab zu jedem Fall und jeder Entscheidung seinen Senf dazu.
Jens flüchtete ins Exil. Zumindest beruflich. Zwar wohnte er weiter in unmittelbarer Nähe, aber er verrichtete seinen Dienst, für Conrad Neumaier
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