Ich bin ein Mörder
zu deiner Einstellung. Das macht mir Angst, Tobias!«
»Du hast Angst vor mir? Vielleicht, weil du endlich anfängst, mein wahres Wesen zu sehen?«
»Nicht vor dir, sondern um dich! Du bedeutest mir viel, sehr viel – weißt du das immer noch nicht? Und ja, ich bewundere das Genie in dir. Aber nicht das Genie in deinem Mörder. Du musst das unterscheiden.«
»Es gibt keinen Unterschied. Er ist ein Teil von mir! Ich habe ihn geschaffen. Er ist mein Werk. Ich bestimme seine Handlung, denke seine Gedanken. Wir sind eins.«
»Ich bin der Herr über Leben und Tod? Ist es das – der Kick, Gott zu spielen? Das geht im Roman, aber das ist doch nicht das Leben.«
Er hob langsam das Glas zum Mund, den Blick fest auf ihr Gesicht geheftet, leerte es in einem Zug, ehe er antwortete.
»Oh doch, genau das ist es!«
»Ich erkenne dich kaum wieder, Tobias. Was ist mit dir passiert? Wenn du das nicht mehr unterscheiden kannst, lebst du irgendwo zwischen Realitätsverlust und Größenwahn!«
Der Spott in seinen Augen schmerzte mehr als alles andere.
»Größenwahn, ja? Es ist die geistige Größe, die dir offenbar fehlt. Wie konnte ich das auch erwarten. Es ist Zeit für dich, zu gehen.« Mit einer wegwerfenden Handbewegung wies er ihr die Tür. »Du bist zu klein für mich und wirst dich nie über deine Grenzen erheben! Jetzt ist deine Zukunft geschrieben. Jetzt. Verschwinde, Bulle.«
Mittwoch, 07. November
Das Blatt flatterte auf den Schreibtisch. Fast schon beiläufig, nebensächlich.
»Vermisstensache, übernimm du das. Persönlich.«
Paula Winkler überflog die Daten.
»Junge, sechzehn Jahre alt. Markus Neumaier.« Überrascht senkte sie das Blatt. »Dein Markus?«
Am anderen Ende des Raumes blieb Conrad Neumaier kurz vor der Tür stehen, wühlte in einem mitgebrachten Ordner.
»Hmhm«, brummte er.
»Hier steht, er ist seit Freitagabend nicht mehr gesehen worden.« Er reagierte nicht. »Freitag. Heute ist Mittwoch!«
»Was willst du von mir, Paula? Alles, was du wissen musst, steht da drauf! Verschwunden nach einem Streit mit dem Vater. Er ist sechzehn, verdammt noch mal! Vielleicht ist er bei seiner Freundin, aber ich weiß nicht mal, ob er eine hat.«
Sein Kopf nahm eine gefährlich dunkle Verfärbung an. Die dicken Finger zerrten am Hemdkragen.
»Mach das diskret, Paula. Das muss nicht jeder im Team mitkriegen. Wir haben immer noch diese Mordsache am Hals.«
»Schon gut Conrad. Schon gut. Ich mach das, wir finden ihn.«
Als er mit dem Ordner im Arm zur Tür hinausstürzte, nahm sie gerade noch wahr, wie seine wasserblauen Augen ins Schwimmen gerieten. Kein gutes Zeichen. Sie kramte in ihrer Handtasche. Ein Königreich für eine Kippe! Seufzend steckte sie das Objekt ihrer Leidenschaft in den Mund und nuckelte daran. Während sie sich bemühte, ein befriedigendes Gefühl aus der kalten Zigarette zu ziehen, griff sie zum Telefon. Erste Schritte einleiten. Auch wenn das vermutlich nichts brachte.
Auf ihrem Schreibtisch türmte sich die Arbeit. Unerledigtes, das jetzt weiter warten musste. Conrad wusste, dass es zunächst nicht allzu viel gab, was sie tun konnte. Er war ein Profi. Genauso lange im Geschäft wie sie selbst. Irgendwie hatten die Jahre an ihm mehr gezehrt als an ihr. Sicher, es ging um seinen Sohn. Eine besondere Situation. Aber sie konnte den Eindruck nicht verdrängen, dass hinter seinem Verhalten mehr steckte.
Sie klemmte den Hörer zwischen Kinn und Schulter, während das Freizeichen ertönte und sie in die Warteschleife verschoben wurde, dabei las sie die Angaben erneut. Markus war kein Streuner. Nie ausgerissen oder anderweitig auffällig geworden. Dann stutzte sie. Nicht Conrad Neumaier hatte die Vermisstenanzeige aufgegeben, sondern seine Frau.
* * *
Tobias Stockmann liebte die energiegeladene Atmosphäre des Frankfurter Flughafens, die Größe der Hallen, die Helligkeit und die scheinbare Schwerelosigkeit der Metall- und Glaskonstruktion. Menschenmengen. Gesprächsfetzen. Schicksale, die sich begegneten, für einen Augenblick, um dann wieder im Sog der Zeit zu verschwinden. Gesichter, müde und euphorisch, aufgeregt, panisch, entspannt, glücklich und erwartungsvoll. Alle Emotionen auf engstem Raum vereint. Alle Geschichten dieser Welt konzentriert und gesammelt in einem Punkt. Jede einzelne eine Möglichkeit, eine Herausforderung, eine Verheißung. Er musste nur beobachten und auswählen. Denn er besaß die Macht, aus einem belanglosen ein ergreifendes Leben zu machen.
Weitere Kostenlose Bücher