Ich Bin Gott
über jedes einzelne Gebrechen anhören würde. Sie hockte sich neben den Priester, der bekümmert auf den Boden starrte, und legte ihm eine Hand aufs Knie. In diesem Augenblick erschien ihr die Geste nicht als Vertraulichkeit, sondern nur als Rückversicherung der Nähe.
» Es würde zu lange dauern, dir das alles zu erklären, Michael, aber er ist es. Du hast richtig gesehen. Er ist es.«
Jetzt kam die Frage vom Pater, der unsicher war, ob er sich der Erleichterung hingeben durfte.
» Bist du sicher?«
Vivien sprang auf.
» Hundertprozentig.«
Sie ging im Zimmer auf und ab, und ihre Gedanken rasten in einer Geschwindigkeit, die sie nicht für möglich gehalten hätte. Dann blieb sie stehen und fragte weiter und hoffte, dass sie auf die Lösung zusteuerten.
» Hat er gesagt, ob er wiederkommen wird?«
» Ich weiß es nicht mehr. Ich glaube aber, dass er es tut.«
Tausend Gedanken schwirrten durch Viviens Kopf. Tausend Bilder schossen unkontrolliert hin und her.
Schließlich wusste sie, was zu tun war.
» Welche Konsequenzen hättest du zu erwarten, Michael, wenn bekannt würde, dass du das Beichtgeheimnis verletzt hast?«
Pater McKean stand auf. Er sah aus, als würde seine Seele in einen tiefen Abgrund gerissen.
» Die Exkommunikation. Das Verbot, mein Amt auszuüben. Für immer.«
» Das wird nicht passieren, weil es nie jemand erfahren wird.«
Vivien erläuterte nun, wie sie vorgehen wollte. Dabei dachte sie an den Mann, der hier bei ihr war, im Weiß dieses Zimmers, und an das Wohl des Joy und daran, was hier jeden Tag für junge Menschen wie Sundance getan wurde.
» Ich kann keine Wanze im Beichtstuhl installieren, dazu müsste ich viel zu viel erklären. Doch du könntest etwas tun.«
» Nämlich?«
» Wenn der Mann zurückkommt, ruf mich mit dem Handy an. Lass es angeschaltet zwischen euch liegen, sodass ich das Gespräch mitverfolgen kann. Auf diese Weise würde nur ich es hören und könnte den Einsatz so leiten, dass der Mann weit weg von der Kirche gefasst werden würde.«
Michael McKean, ein Geistlicher, der jede Gewissheit verloren hatte, sah am Horizont einen Hoffnungsschimmer aufscheinen.
» Aber dieser Mann wird doch alles erzählen, wenn ihr ihn gefasst habt.«
» Wer wird ihm glauben, wenn wir eine andere Geschichte erzählen? Ich habe noch eine weitere Zeugin, die einen Mann mit einer grünen Jacke gesehen hat. Wenn ich es so hindrehe, dass sie mich auf die Spur gebracht hat, würdest du unbeschadet aus der ganzen Sache hervorgehen.«
Der Pater schwieg und dachte über den Vorschlag nach, als stünde Vivien vor ihm und böte ihm einen Apfel an.
» Ich weiß nicht, Vivien. Ich weiß gar nichts mehr.«
Vivien legte ihm die Hand auf den Arm und drückte ihn fest.
» Michael, es steht mir nicht zu, dir Predigten zu halten. Ich bin in meinem Leben nur selten in die Kirche gegangen, doch eines weiß ich ganz gewiss: Du wirst viele Menschen vor dem Tod bewahren, und jener Christus, der am Kreuz gestorben ist, um die Welt zu erlösen, wird nicht anders können, als dir zu vergeben.«
Die Antwort kam nach einer Pause, die so lang war, wie die Ewigkeit, an die zu glauben der Priester lehrte.
» In Ordnung. Ich mache es.«
Vivien spürte, wie Dankbarkeit und Erleichterung sie durchfluteten, und sie konnte sich gerade noch beherrschen, Pater McKean nicht zu umarmen. Nie war er den Menschen so nahe gewesen wie in diesem Moment, da er glaubte, seine Seele habe sich von Gott entfernt.
» Was meinst du, sollen wir nicht in den Garten gehen? Ich möchte unbedingt meine Nichte sehen.«
» Die Kids gehen gerade zum Mittagessen. Möchtest du dich nicht zu uns gesellen?«
Vivien merkte, dass ihr Magen knurrte. Der Optimismus hatte ihren Appetit angeregt.
» Sehr gerne. Die Kochkünste von Mrs. Carraro verdienen immer eine Würdigung.«
Ohne ein weiteres Wort verließen sie das Zimmer und schlossen die Tür hinter sich.
Nach einer gewissen Zeit kam jemand hinter dem Paravent hervor. Es war John Kortighan, der lange mit gerunzelter Stirn und feuchten Augen auf die Tür starrte, sich dann auf die Liege setzte und, als kostete ihn diese Bewegung große Mühe, das Gesicht in den Händen vergrub.
31
Russell saß in einem bequemen roten Sessel und wartete.
Er war es gewohnt zu warten. Jahrelang hatte er gewartet, ohne überhaupt zu wissen, worauf. Vielleicht auch, ohne sich bewusst zu sein, dass er wartete. All die Jahre über hatte er die Welt aus der Perspektive eines furchtsamen
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