Ich Bin Gott
ist Russell. Ich habe ihn gefunden.«
Die Verbindung war schlecht, und sie konnte ihn nicht gut verstehen.
» Beruhige dich. Und sprich langsam. Wen hast du gefunden?«
Russell sprach jetzt laut und deutlich, und endlich begriff Vivien, wovon er redete.
» Der Mann, der sich in all den Jahren Wendell Johnson genannt hat, heißt in Wirklichkeit Matt Corey. Er ist in Chillicothe, Ohio, geboren und hatte einen Sohn. Ich habe den Namen und ein Foto.«
» Bist du verrückt? Wie hast du das denn angestellt?«
» Das ist eine lange Geschichte. Wo bist du?«
» In der Wohnung von Wend…«
Sie unterbrach sich und beschloss, Russell bis zum Beweis des Gegenteils die Gunst des Zweifels zu gewähren.
» In der Wohnung dieses Matt Corey, am Broadway in Williamsburg. Und du?«
» Ich bin vor einer Viertelstunde auf dem LaGuardia gelandet und fahre jetzt über den Brooklyn Expressway nach Süden. In zehn Minuten bin ich bei dir.«
» Gut. Ich warte hier auf dich.«
Unglaublich. Sie setzte sich wieder, hatte aber das Gefühl, dass ihre Beine gleich zu zappeln anfangen würden und bald darauf das Klappern ihrer Absätze auf dem Fußboden zu hören wäre. Also stand sie wieder auf und ging ein paar Schritte durch eine Wohnung, die sie mittlerweile wie ihre Westentasche kannte.
Russell war ganz allein zu einem Ergebnis gelangt, wo sie versagt hatte. Sie spürte jedoch weder Ärger noch Neid. Nur Erleichterung darüber, dass sie die vielen Menschen vielleicht doch noch retten würden, und Bewunderung für Russells Leistung. Plötzlich wurde ihr bewusst, warum sie nicht gekränkt war. Weil es nicht irgendwer war, der das alles herausgefunden hatte, sondern Russell. Den Umständen zum Trotz nagte das an ihr. Man freut sich nur über den Erfolg eines Menschen, wenn man ihn liebt, und ihr wurde bewusst, dass sie sich hoffnungslos in diesen Mann verliebt hatte. Früher oder später würde es ihr natürlich gelingen, ihn aus ihrem Kopf zu verbannen, doch das würde viel Zeit und Anstrengung kosten.
Nicht ohne Selbstironie sagte sie sich, dass sie ja durch die Suche nach einem neuen Job abgelenkt sein würde. Sie ging ins Schlafzimmer, schaltete das Licht an und ließ zum wiederholten Male den Blick durch diesen Raum ohne Spiegel und Bilder schweifen.
Ganz plötzlich wusste sie es.
Keine Bilder an den Wänden …
Als sie mit Richard zusammen gewesen war, hatte sie Kunst und Künstler kennen gelernt. Er war Architekt, aber auch ein ganz guter Maler. Davon zeugten die vielen Bilder, die in ihrer Wohnung hingen. Sie zeugten jedoch auch vom natürlichen Narzissmus eines Künstlers. Der dem Talent diametral entgegengesetzt sein konnte. Es kam ihr seltsam vor, dass dieser Mann, dieser Matt Corey, all diese Zeichnungen angefertigt und dann der Versuchung widerstanden haben sollte, auch nur eine einzige aufzuhängen.
Es sei denn …
Sie ging zu dem improvisierten Tisch an der Wand, nahm die große graue Mappe vom unteren Brett, schlug sie auf und blätterte rasch durch die Zeichnungen auf ihrem ungewöhnlichen Kunststoffgrund
Konstellation von Karen,
Konstellation der Schönheit,
Konstellation des Endes …
bis sie die gesuchte gefunden hatte. Es klingelte genau in dem Moment, als sie sie aus dem Stapel hervorzog. Sie legte die Zeichnung auf das grobe Holz und ging in der Hoffnung, dass es nicht Judith war, zur Tür. Es war ein erschöpfter, unrasierter Russell mit wirren Haaren und zerknitterter Kleidung. In der Hand hatte er etwas, das wie ein zusammengerolltes Plakat aussah.
Zwei Gedanken schossen ihr durch den Kopf: dass Russell wunderbar und sie eine Idiotin war.
Sie zog ihn am Arm in die Wohnung, bevor die Tür gegenüber aufgehen würde.
» Komm rein.«
Vivien machte die Tür sofort wieder zu. Das Geräusch des einschnappenden Schlosses vermischte sich mit Russells aufgeregter Stimme.
» Ich muss dir zeigen, was …«
» Einen kleinen Augenblick. Lass mich erst etwas prüfen.«
Gefolgt von Russell, der nichts begriff, lief sie zurück ins Schlafzimmer, wo sie die mit einem blauen Rand versehene Kunststofffolie mit der sogenannten Konstellation des Zorns in die Hand nahm. Die Zeichnung bestand aus vielen weißen und ein paar roten Punkten.
Unter Russells neugierigen Blicken ging sie zu dem Stadtplan von New York, der an der Wand hing, und hielt die Zeichnung darüber. Es passte perfekt. Doch während die weißen Punkte einfach irgendwo zu sein schienen, manche auch auf dem Fluss oder dem Meer, befanden sich die
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