Ich Bin Gott
lösen. Der XC 60 schoss in einer Art Slalom zwischen den anderen Fahrzeugen hindurch, die bremsten und zur Seite fuhren, um sie vorbeizulassen.
Er protestierte energisch, schien aber keine Angst zu haben.
» Bist du verrückt? Wir fahren viel zu schnell und riskieren Kopf und Kragen.«
Vivien hob die Stimme.
» Zeig her, habe ich gesagt.«
Vielleicht ein bisschen zu laut. Das hatte sie schon einmal getan und hatte es bereut.
Unwillig entrollte Russell das Plakat. Vivien warf einen Blick darauf und erfasste den roten Schriftzug unter dem Bild. In fetten Lettern stand dort:
Der fantastische
Mister Me
Sie konzentrierte sich wieder auf die Straße. Auf einem Stück, auf dem keine Autos fuhren, warf sie einen etwas längeren Blick auf das Plakat. Und ihr Herz tat einen so heftigen Satz, dass sie glaubte, ein zweiter würde es zerspringen lassen.
Sie murmelte, flehte, betete und wäre am liebsten bis ans Ende der Welt gefahren.
» O mein Gott. O mein Gott.«
Russell rollte das Plakat wieder zusammen, warf es nach hinten und konnte trotz des Geräuschpegels hören, wie es hinter seinem Sitz auf den Boden fiel.
» Was ist los, Vivien? Was ist los mit dir? Kannst du mir nicht sagen, wohin wir fahren?«
Zur Antwort drückte Vivien das Gaspedal bis zum Anschlag durch und fuhr noch schneller. Sie hatten gerade die Brücke über den Hutchinson River hinter sich gelassen und jagten nun mit allem, was der Motor hergab, über die Interstate 95 .
Um die Angst, die ihr den Atem nahm, zu bekämpfen, beschloss Vivien, Russells Neugierde zu stillen. Noch betete sie, dass sie sich irrte, doch sie wusste, dass ihr Gebet nicht erhört werden würde.
» Das Joy ist ein Rehabilitationszentrum für Drogenabhängige. Meine Nichte ist dort, die Tochter meiner Schwester, die heute Nacht gestorben ist. Und dort befinden sich Minen.«
Jetzt, da sie ihren Schmerz in Worte gefasst hatte, spürte Vivien die Tränen aufsteigen. Der Kloß in ihrem Hals erstickte ihre Stimme. Mit dem Handrücken wischte sie sich über die Augen.
» Verdammt.«
Russell verlangte keine weiteren Erklärungen. Vivien flüchtete sich in ihren Zorn auf das Leben, um wieder klar denken zu können. Später, wenn alles zu Ende sein würde, könnte sich dieser Zorn in Gift verwandeln, sofern sie ihn nicht irgendwie würde ausspucken können. Jetzt jedoch brauchte sie ihn, denn aus ihm gewann sie ihre Kraft.
Als sie die Burr Avenue erreichten, fuhr Vivien langsamer und nahm das Blinklicht vom Dach, um sich dem Haus unauffällig zu nähern. Sie warf einen Blick zu Russell hinüber, der ganz still auf seinem Platz saß, ohne in den Raum einzudringen, den sie jetzt ganz für sich brauchte. Sie wusste das zu schätzen. Er war ein Mann, der reden konnte, der aber auch wusste, wann er zu schweigen hatte.
Sie bogen in den Kiesweg ein, der zum Joy führte. Anders als sonst fuhr sie nicht bis zum Parkplatz, sondern hielt am rechten Wegrand in einer Ausbuchtung, die sich hinter ein paar Zypressen versteckte.
Vivien stieg aus.
» Warte hier auf mich.«
» Nicht im Traum.«
Als sie sah, dass es ihm ernst war und er um nichts in der Welt am Auto auf sie warten würde, gab sie nach. Sie zog ihre Pistole und lud sie. Die so vertraute Handlung, die für sie Sicherheit bedeutete, ließ einen Schatten über Russells Gesicht huschen. Vivien steckte die Pistole wieder ins Halfter.
» Bleib hinter mir.«
Vivien folgte nicht der Straße, die im Hof mündete, sondern nahm einen anderen Weg zum Haus. Im Schutz der Büsche schlich sie am Garten entlang bis zur Vorderseite des Gebäudes. Vivien sah die vertraute Fassade des Joy, und die Angst griff mit kalten Fingern nach ihr. Vertrauensvoll hatte sie ihre Nichte hierhergebracht, und nun war dieses Haus, in dem die Jugendlichen neue Hoffnung fürs Leben schöpfen sollten, zu einem möglichen Ort des Todes geworden. Vivien erhöhte Aufmerksamkeit und Tempo. Dicht beim Haus saßen zwei Jugendliche auf einer Bank, Jubilee Manson und ihre Nichte.
Sie trat aus den Büschen hervor, winkte vorsichtig, um die Aufmerksamkeit der beiden auf sich zu lenken und legte, als sie zu ihr herübersahen, sofort den Zeigefinger auf den Mund.
Jubilee und Sundance standen auf und kamen zu ihr. Viviens dringliche Geste und ihr ganzes Verhalten bewogen Sundance zu flüstern.
» Was ist los, Tante Vivien?«
» Psst, hör zu. Verhalte dich ganz normal und tu, was ich dir sage.«
Sundance begriff sofort, dass es sich nicht um einen Scherz handelte.
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