Ich Bin Gott
hatten.
An diesem Tag schob er wie so oft den Vorhang zurück, trat in den Beichtstuhl und ließ sich nieder, ohne das kleine Licht über seinem Kopf anzumachen. Der Korbstuhl war alt, aber bequem, und ein freundliches Halbdunkel hüllte ihn ein. Er streckte die Beine aus und lehnte den Kopf gegen die Wand. Die Bilder aus dem Fernsehen, die Augen schockiert und Gemüter erschüttert hatten, hinterließen ihre Spuren auch bei Menschen, die nicht direkt von der Tragödie betroffen waren. Weil man noch am Leben war. An solchen Tagen lag die gesamte Existenz in der Waagschale. Er verstand die Menschen nicht und auch nicht den Gott, dem er diente, obgleich er im Gottesdienst anders gesprochen hatte. Manchmal fragte er sich, wie sein Leben verlaufen wäre, wenn er nicht, wie die Kirche es nannte, seiner Berufung gefolgt wäre. Wenn er eine Frau hätte, Kinder, eine Arbeit, ein ganz normales Leben. Achtunddreißig Jahre war er alt. Vor langer Zeit hatte man ihm im Moment der Entscheidung erläutert, worauf er alles verzichten würde. Es waren alles Dinge gewesen, die er nie erfahren hatte, und jetzt verspürte er manchmal eine namenlose Leere. Gleichzeitig war er jedoch überzeugt davon, dass alle Menschen irgendwann in ihrem Leben so etwas verspürten. Seine Genugtuung gegenüber dem Nichts fand er darin, dass er seinen Schützlingen half, nicht mehr ins Nichts zu fallen. Im Grunde, dachte er, ist nicht das Verstehen das Schwerste, sondern das Weitermachen, wenn man verstanden hat. Trotz aller damit verbundenen Mühen. Das kam dem Glauben am nächsten, und es war das Einzige, was er in diesem Moment zu bieten hatte. Sich selbst und den anderen.
Und Gott.
» Da bin ich, Pater McKean.«
Die Stimme war plötzlich und unerwartet da. Sie kam aus dem Schatten und aus einer friedlosen Welt, die er für einen Augenblick vergessen hatte. Er stützte sich auf die Armlehne und beugte sich ein wenig vor.
Im schummrigen Licht konnte er durch das Gitter nur einen schemenhaften Umriss und eine mit grünem Stoff bedeckte Schulter erkennen.
» Guten Tag. Was kann ich für dich tun?«
» Nichts. Ich glaube, Sie erwarten mich.«
Die Worte jagten ihm einen Schauer über Rücken. Die Stimme klang düster, aber ruhig. Die Stimme eines Menschen, der keine Angst vor dem Abgrund hat, der sich vor ihm auftut.
» Kennen wir uns?«
» Sehr gut. Oder gar nicht. Wie Sie wollen.«
Das Unbehagen entwickelte sich zu einer leisen Angst. Der Geistliche flüchtete sich in die einzigen Worte, die er zur Verfügung hatte.
» Du bist in einem Beichtstuhl. Ich nehme an, dass du beichten möchtest.«
» Ja.«
Die Antwort klang entschlossen, zugleich aber auch unbeteiligt.
» Dann erzähle mir von deinen Sünden.«
» Ich habe keine begangen. Mir geht es auch nicht um Absolution, weil ich sie nicht brauche. Und ich weiß, dass Sie mir keine erteilen würden.«
Pater McKean war über die Endgültigkeit dieser Aussage erstaunt. Der Stimme war anzuhören, dass hier nicht bloße Überheblichkeit, sondern etwas viel Tieferes und Verheerenderes vorlag. Zu einem anderen Zeitpunkt hätte er vielleicht anders reagiert. Jetzt hatte er noch die Bilder des Todes vor Augen, und der Lärm der Zerstörung klang in seinen Ohren nach. Er verspürte das Gefühl der Niederlage nach einer nahezu schlaflosen Nacht.
» Wenn du so denkst, was kann ich dann für dich tun?«
» Nichts. Ich wollte Ihnen nur eine Nachricht überbringen.«
» Was für eine Nachricht?«
Der Mann schwieg einen Moment, doch es war kein Zögern. Er wollte seinem Gegenüber die Zeit geben, seinen Geist von allen anderen Gedanken zu befreien.
» Ich habe es getan.«
» Was hast du getan?«
» Ich habe das Haus an der Lower East Side hochgehen lassen.«
Pater McKean schnappte nach Luft.
Die Bilder überlagerten sich. Staub, Krankenwagen, die Schreie der Verletzten, die Farbe des Blutes, die Leichen, die auf Tüchern weggetragen wurden, das Weinen der Überlebenden, die Verzweiflung derer, die alles verloren hatten. Die Erklärungen im Fernsehen. Wieder befand sich eine ganze Stadt und ein ganzes Land in den Fängen der Angst, die, wie einmal jemand gesagt hat, der einzig wirkliche apokalyptische Reiter war. Und der unbestimmte Schatten auf der anderen Seite des dünnen Trenngitters behauptete, für all das verantwortlich zu sein.
Die Vernunft gebot ihm, Zeit zu gewinnen und seine Gedanken zu sortieren. Immer wieder gab es kranke Menschen, die die Schuld für Morde oder Unglücke auf sich
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