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Ich bin kein Berliner

Ich bin kein Berliner

Titel: Ich bin kein Berliner Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kaminer Wladimir
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Bally -Niederlassung befindet, die früher immer Künstler für neue Flipper-Spiel-Entwürfe einstellte. Die letzten Flipperer zieht es heute in die Körtestraße am Südstern in die Kneipe Kahuna.

Die Fußballstadt
    Mein ehemaliger Nachbar Wan Dong schimpfte über Männer mit Hörnern und Zöpfen, die rudelweise auf dem Alexanderplatz herumliefen. Sie hatten ihn auf Englisch gefragt, wo die Berliner Mauer stehe. Als Wan Dong ihnen erklärte, die Mauer wäre vor sechzehn Jahren abgebaut worden, waren sie enttäuscht. Ich weiß, viele Bewohner der Hauptstadt würden diese Enttäuschung teilen. Die Mauer mit ihren Schützen in originalgetreuen Uniformen, mit Grenzübergängen, Stacheldraht und politisch motivierten Graffiti gab eine gute Touristenattraktion ab. Auch Wan Dong fand es doof, dass es sie nicht mehr gab.
    In Vietnam haben seine Landsleute zum Beispiel die unterirdischen Gänge aus den Zeiten des Vietnamkriegs neu verlegt und sogar wesentlich verbessert. Viele amerikanische Touristen fliegen heute nach Vietnam, um die ehemaligen Schlachtfelder zu besichtigen. Unter anderem wollen sie auch die berühmten unterirdischen Gänge sehen, die die vietnamesischen Kämpfer damals gruben. Doch die alten Gänge waren sehr schmal, kein amerikanischer Tourist passte da hinein, von ganzen Reisegruppen ganz zu schweigen. Deswegen haben die Vietnamesen ihre unterirdischen Gänge extra für die Touristen vergrößert.
    Der Umgang meines Nachbarn mit der Weltgeschichte war schon immer äußerst pragmatisch. Alles abreißen und neu bauen, nur besser, so äußerte er sich immer wieder über die Altbauten im Prenzlauer Berg. Früher fragte ich mich jedes Mal, wenn im Fernsehen amerikanische Kriegsfilme liefen, in denen Chuck Norris die Vietnamesen bekämpfte, wie mein Nachbar wohl darauf reagierte und ob ich ihn nicht trösten sollte. Die Streifen zeigten sehr überzeugend, wie ein verlorener Krieg einen dauerhaften Dachschaden bei einer ganzen Nation verursachen kann. Chuck kam im Film eigentlich immer mit guten Absichten nach Vietnam. Er wollte nur seine vietnamesische Exfreundin und ihr gemeinsames Kind retten, die in einem Vietkonglager saßen. Beim Rückzug hatte es im Hubschrauber keinen Platz mehr für die beiden gegeben. Zu Hause in Amerika verkaufte Chuck seinen alten Ford, erwarb dafür einen gebrauchten Helikopter, ein Schlauchboot, ein Maschinengewehr sowie einen Granatwerfer und überfiel damit erneut die sozialistische Republik Vietnam. Diesmal allerdings privat – als Tourist. Er metzelte einige Garnisonen nieder, brannte etliche Dörfer ab und fand schließlich seine Restfamilie. In letzter Sekunde wurde die Frau jedoch immer erschossen. Sie sah nicht wirklich gut aus und hatte in Amerika sowieso nichts zu suchen. Das Kind wurde aber immer mitgenommen.
    Ich fragte mich damals, ob mein vietnamesischer Nachbar sich durch diese Filme beleidigt fühlte. Wan Dong kannte Chuck Norris aber gar nicht. Er war kein Freund von Actionfilmen, stattdessen guckte er die ganze Zeit nur Viva und MTV. Besonders fasziniert war er von dem Phänomen Michael Jackson. Mehrmals versuchte er, mich in philosophische Gespräche über diesen Sänger und dessen Lebenswandel zu verwickeln. Einmal haben wir sogar zusammen einen Dokumentarfilm über Michael Jackson angeschaut, der sehr bildhaft erzählte, wie aus einem armen schwarzen Jungen eine reiche weiße Frau wurde.
    Der Fußballrummel bei der WM ließ Wan Dong hingegen kalt. Genau wie ich konnte er seinen Lokalpatriotismus bei diesen Spielen kaum befriedigen. Weder Vietnam noch Russland hatten sich für die Fußballweltmeisterschaft qualifiziert. Deswegen fieberten wir ein wenig bei den uns fremden Ländern mit. Er war für Südkorea, ich für die Schweiz.
    Die Fußballbegeisterung vieler Berliner konnte ich nicht nachvollziehen. Fußballfieber eines solchen Grades, dass Millionen dahinschmelzen, habe ich erst in Deutschland kennengelernt. Meine Heimat Sowjetunion setzte auf Eishockey, wenn es darum ging, die Welt mit der eigenen Sportlichkeit zu beeindrucken und die Bevölkerung von aktuellen Problemen des Alltags abzulenken. Diese Sportpolitik ließ sich aus der natürlichen Wetterlage des Landes ableiten. Aufgewachsen bei Minustemperaturen, waren meine Landsleute schon immer besonders stark in Sportarten, die mit Eis und Schnee zu tun hatten: Eiskunstlauf, Biathlon, Skispringen und Eishockey. Ausnahmsweise gehörten noch Hürdenlaufen und Hammerwerfen zu den Disziplinen, in denen

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