Ich bin kein Berliner
würden die geklauten Sachen zu neunzig Prozent schnell wieder gefunden. Unserer Tasche gab er sogar eine neunundneunzigprozentige Chance. Und seine Voraussage bestätigte sich. Gleich am nächsten Tag rief jemand bei uns im Hotel an und hinterließ eine Nachricht: Wir sollten schleunigst unsere Tasche am Rossio-Platz abholen. Wir gingen erneut zum Porzellanladen, wo sie hinter dem großen Schaufenster tatsächlich lag. Die Taschentücher, die Schlüssel, das Handy, sogar die Geldbörse mit dem Bild der heiligen Maria – alles war da, außer unserem Geld und dem Fotoapparat. Auch unsere Talismane, die meine Frau immer in der Tasche hat, waren verschwunden: die Kugel, mit der ihr Vater einst zur Selbstverteidigung einen Bären erschoss, und der kleine Stein der Weisen, der mir so lange erlaubt hat, amüsante Geschichten aufzuschreiben. Na und? Ich schreibe trotzdem weiter. Dem Dieb werden unsere Talismane kein Glück bringen, denke ich.
Im Übrigen waren wir von Lissabon beeindruckt und empfanden auch für die Diebe Verständnis. Man kann solche Ereignisse nicht aus dem Kontext herausgelöst verstehen. Die Arbeitslosigkeit ist in Portugal sehr hoch, statt Öl fördern sie Portwein, aber der ist nicht jedermanns Sache. Deswegen spielen die Portugiesen wie verrückt Lotto – als wüssten sie nicht, wie sie sonst an Geld kommen könnten. Leider verlieren sie ständig. Der portugiesische Jackpot beläuft sich daher derzeit auf mehrere hundert Millionen Euro – und keiner kann ihn knacken. Außerdem ist es in diesem Land fast immer sonnig. Ein unglaublich starkes atlantisches Licht taucht die Stadt Tag für Tag in Rosa und Gold. Unter solchen Umständen könnte selbst der ehrlichste Mensch zum Taschendieb werden. Im trüben Berlin könnte so etwas kaum passieren – im Gegenteil: Hier können Sie mit Ihrer Tasche um sich schmeißen, solange sie wollen, von mir aus mitten im Menschengetümmel am Potsdamer Platz. Keine Sau wird sie klauen. Und wenn, würde kein Berliner Polizist einem versprechen, dass man sie wiederkriegt, erst recht nicht zu »neunundneunzig Prozent«. Und falls doch, wird Ihre Tasche trotzdem für immer in Berlin verschwunden sein.
TIPP:
Innerhalb von drei Jahren haben wir fünfmal in den Hackeschen Höfen zwanzig Euro gefunden. Sollten Sie dort ebenfalls fündig werden, können Sie das gefundene Geld gleich gegenüber in den zahllosen Geschäften der S-Bahn-Bögen am Hackeschen Markt wieder auf den Kopf hauen.
Berliner Touristen
Vor einiger Zeit steckte ich mit dem Taxi im Stau auf einer Brücke fest. Alles hupte um uns herum. Die Querstraße war von großen Touristenbussen versperrt.
»Verdammte Arschlöcher«, schimpfte der Taxifahrer. »Is det Venedig hier, oder wat?«
Die »verdammten Arschlöcher!«, etwa zwei Dutzend Männer und Frauen, standen direkt neben unserem Wagen und folgten den Anweisungen ihres Reiseführers.
»Schauen Sie bitte nach links«, sagte der Reiseführer. »Dort sehen Sie den Palast der Republik, ein typisches Bauprojekt der sozialistischen Architektur. Nach der Wende stellte sich heraus, dass der Palast asbestverseucht war.«
»Hui!«, hielt die Gruppe den Atem an. Von dem gefährlichen Asbest, der Hauptdroge des Sozialismus, hatten sie alle schon gehört.
»Der Palast kann aber in absehbarer Zeit nicht abgerissen werden, weil er ein unverzichtbares Gleichgewicht darstellt mit dem – schauen Sie bitte nach rechts – Berliner Dom«, fuhr der Reiseführer fort.
»Wenn man also den Asbest-Palazzo sprengt, bricht auch der Dom in sich zusammen. Deswegen werden beide Gebäude nun langsam, Stück für Stück, auseinandergenommen, um die Balance nicht zu gefährden. Der Berliner Dom wird danach wieder neu aufgebaut, und an Stelle des ehemaligen Palastes der Republik …«
Der Stau löste sich auf, wir fuhren weiter.
Ich muss auch einmal so eine Stadtrundfahrt machen, überlegte ich. Diese Touristen wussten anscheinend mehr über die Stadt und ihre Zukunft als ich. Einige Touristen notierten sich sogar Informationen, die ihnen besonders interessant vorkamen. Wie würden diese Notizen wohl aussehen? »Habe heute in Berlin auf einer Brücke Asbest inhaliert. Voll geiler Kick. Danach Kopfschmerzen, Hunger, Durst.«
In der letzten Zeit treffe ich überall auf Touristen, sogar in den entlegensten Winkeln Ostberlins. Dort, wo es überhaupt nichts mehr gibt, weder Brücke noch Dom. Neulich war ich Zeuge, wie eine Gruppe Japaner in Friedrichshain eine halbe Stunde lang einen
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