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Ich bin kein Berliner

Ich bin kein Berliner

Titel: Ich bin kein Berliner Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kaminer Wladimir
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anderem im Internet recherchierte. Über fünfunddreißig Bonbonsorten werden in der Fabrik produziert. Für ausgefallene Geschmäcker gibt es Feuerhimbeeren mit Cayennepfeffer; populär sind jedoch die so genannten Maiblätter – eine echte Berliner Bonbonspezialität.
    Am Drehtag waren wir pünktlich zur Stelle. Die Fabrik war nicht nur eine Produktions-, sondern auch eine Verkaufsstätte. In einem kleinen Raum standen drei Dutzend Kinder und fünf kinderreiche Mütter Kopf an Kopf und warteten auf ihre Maiblätter. Die Verkäuferin saß hinter der Theke, und ein Berliner Arbeiter im weißen Kittel – der Bonbonmacher – stand hinter einem großen Arbeitstisch und erklärte den Kindern den Produktionsprozess. Er war außerordentlich guter Laune. In einem eisernen Topf kochte Bonbonsirup, der genau wie grüne Kacke aussah.
    »Das ist der Bonbonsirup. Der hat mit den Maiblättern noch nichts zu tun und sieht wie grüne Kacke aus«, erzählte der Bonbonmacher mit der Stimme eines Grundschullehrers. »So, und jetzt hole ich diese grüne Kacke aus dem Topf und rolle sie auf dem Tisch aus.« Der Bonbonmacher holte die grüne Kacke aus dem Topf und rollte sie auf dem Tisch aus.
    »Das sieht gut aus, das müssen wir unbedingt aufnehmen«, meinte Ulrike, unsere Redakteurin. Der Kameramann, die Praktikantin und ich hechteten zu dem Bonbonmacher, um ihn mitten im Arbeitsprozess zu erwischen.
    »Jetzt gebe ich die Sonderzutaten dazu«, fuhr der Bonbonist fort, »also die Zitronensäure, ein bisschen Puderzucker, einen Schuss Waldmeister und die alten Bonbons von vorgestern, die nichts geworden sind.«
    In der Enge stieß die Praktikantin gegen ein Regal, und der Kameramann streifte mit der Kamera einen Wandschrank: Ein Stapel CDs, eine halb volle Kaffeetasse und ein Glas mit einem braunen Pulver fielen herunter und verschwanden blitzschnell in der grünen Kacke. Der Bonbonmacher war aber dermaßen gut drauf, dass er nur den Kopf schüttelte, als hätte er nichts bemerkt.
    Ich stellte mich neben ihn und begann mit meinem ersten Aufsager: »Viele denken, Berlin sei nur so eine Spaßstadt …«
    »Was du nicht sagst«, konterte sofort eine kinderreiche Mutter, »wer denkt denn so einen Blödsinn?«
    »Seid ihr vom Kinderkanal?«, drängten die Kinder nach vorne. Sie wollten ins Fernsehen.
    Ich ließ mich nicht ablenken: »Also … eine Spaßstadt. Doch hier sehen Sie eine echte, traditionsreiche Berliner Fabrik …«
    »Das ist keine Fabrik, sondern eine Bonbonmacherei«, empörte sich der Bonbonmacher.
    Nach einer kurzen, aber harten Diskussion einigten wir uns darauf, dass man die Bonbonmacherei für einen Tag in eine Fabrik umtaufen könne. Inzwischen war die grüne Kacke kalt geworden. Sie sollte nun in einer speziellen Maschine zu appetitlichen Maiblättern geschnitten werden. Wir mussten eine neue Drehposition suchen.
    Ich stellte mich mit einer Bonbontüte in der Hand neben die Verkaufstheke und fuhr fort: »Für den ausgefallenen Geschmack gibt es hier Feuerhimbeeren mit Geiennepfeffer. Die meisten Kunden entscheiden sich jedoch für die Maiblätter – eine echte Berliner Spezialität«, sagte ich in die Kamera und stopfte mir mehrere davon in den Mund.
    »Du hast das Wort ›Cayenne‹ falsch ausgesprochen, wir müssen wiederholen«, meinte Ulrike.
    Ich wiederholte.
    »Du hast wieder Geienne gesagt!«
    Ich wiederholte noch mal. Nach dem zehnten Mal konnte ich die Berliner Spezialität nicht mehr sehen. Allein der Gedanke daran trieb mir die Bonbons wieder hoch.
    »Na, schmeckt es noch?«, fragte mich eine kinderreiche Mutter interessiert. Auch die Kinder um mich herum wurden auf einmal ruhiger. Sie warteten gespannt, wann die von mir verschluckten Maiblätter alle wieder herauskämen.
    »Geht’s noch?«, fragte Ulrike besorgt, sie wollte mich nämlich noch ein bisschen bei den anderen Bonbonsorten drehen.
    Ich leistete schweigend Widerstand.
    Wir verließen den Laden und fuhren zum nächsten Drehort – nach Wilmersdorf in ein riesengroßes Fitnesszentrum, in dem sich die Berliner Produktionsarbeiter nach Feierabend trafen und entspannten. Eine Pressesprecherin begleitete uns durch diese Oase der Gesundheit, vor ihrer Brust hing ein Säugling. Mit diesem Säugling wanderten wir durch die zahlreichen Trainingssäle und Massageräume. Wir sahen Rentner, gestresste Manager und Bodybuildingfreaks, aber keine Arbeiter. Ich nahm an einer Yogavorführung teil und bekam eine Rückenmassage geschenkt, musste aber stets an

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