Ich bin kein Berliner
die Maiblätter vom Dreh davor denken, die mir immer noch im Hals steckten. Sie wollten nicht richtig rein und nicht richtig raus. In der Schwimmhalle drehten wir noch einen einsamen Sportfreund, der sich wie ein weißer Hai durch das Becken arbeitete.
Danach fuhren wir zum Erfinderklub »Denker« in der Passauer Straße. Er war vor vier Jahren von meinen Landsleuten gegründet worden, die schon früher in der Sowjetunion ständig irgendetwas erfunden hatten und jetzt auch in Deutschland damit weitermachten. Die wissenschaftliche Forschung war in meiner Heimat eine sehr beliebte Tätigkeit. Die populäre Zeitschrift »Der Erfinder und der Rationalisator«, auf feinem dünnem Papier gedruckt und mit vielen Skizzen und Zeichnungen, konnte man fast in jedem Haushalt auf dem Klo finden. Und im Fernsehen berichtete der Akademiker Kapiza in seiner Sendung »Unvorstellbare Tatsachen« ständig über neue russische Erfindungen. Fast in jeder guten Schule existierte ein »Jugend forscht«-Zirkel. In dem Berliner Erfinderklub »Denker« forschte dagegen das Alter. Die Erfinder schufteten jeden Tag von früh bis spät und hatten unglaublich viel Zeug in den letzten Jahren zum Patent angemeldet. Die größten und dementsprechend bildhaftesten Erfindungen konnten wir filmen, darunter eine Windkraftmaschine mit Multiturbinenprinzip, die man gleichzeitig zur Schnapsdestillation benutzen konnte.
»Sie filmen das Gerät von der falschen Seite«, sorgte sich der Erfinder. »Das ist die unwichtige Seite, die wichtige Seite ist hier hinten!«
»Aber diese Seite sieht einfach besser aus«, konterte der Kameramann.
Die Wissenschaftler beklagten sich darüber, dass man in Deutschland als Erfinder nur schlecht Zugang zur Wirtschaft fand.
»Weniger als fünf Prozent der Patente werden tatsächlich umgesetzt«, erklärten mir meine Landsleute. Woher soll dann bitte der erwünschte wirtschaftliche Aufschwung kommen? Ich versprach ihnen, dieses wichtige Thema in der Sendung anzusprechen.
Es war schon dunkel, als wir mit dem Dreh fertig waren. Berlin – die Arbeiterstadt, in der die Leute ununterbrochen schufteten, war nicht besonders überzeugend rübergekommen.
»Das Leben und das Fernsehen sind inkompatibel, das eine findet wirklich statt, und das andere ist nur Quatsch«, dachte ich frustriert.
In der Nacht träumte ich von Windkraftmaschinen aus Pappe und von Maiblättern. Massenhaft liefen Kamerateams durch die Stadt, und ich verwandelte mich allmählich in ein Hundertkilo-Bonbon, woraufhin ein Riesensäugling mit ausgestreckter Zunge auf mich zukrabbelte.
TIPP:
In Berlin macht man ähnlich wie im Ruhrgebiet aus nahezu allen Produktionsbetrieben Kulturzentren. Nicht nur wurden aus der Pankower Brotfabrik ein Kino, aus der Backfabrik am Alexanderplatz ein Kunstausstellungshaus mit einem Blindenrestaurant und aus der Heeresbäckerei in Kreuzberg ein Atelier- beziehungsweise Lofthaus. Auch die zahlreichen Berliner Brauereien wurden umgewidmet: Die Schultheissbrauerei im Prenzlauer Berg ist jetzt eine Kulturbrauerei, und die am Kreuzberg soll eine werden. Auch Spandau und Moabit verfügen über eine Brauerei, wo sich nur noch Kultur zusammenbraut. Umgekehrt wird in immer mehr Gaststätten eigenes Bier gemacht. Eine davon, das Luisen Bräu, befindet sich neben dem Schloss Charlottenburg am Luisenplatz.
Berliner Kinder
Die Babys gewinnen in Berlin eindeutig die Oberhand. Langsam verwandeln sie unseren Bezirk in einen einzigen Kindergarten. In den Treppenhäusern, dort wo früher Fahrräder standen, häufen sich jetzt die aneinandergeketteten Kinderwagen. Auch die Geschäfte passen sich dem jungen Publikum an: Zooläden setzen Unmengen von Zwergkaninchen ab, alternative Spielzeugwerkstätten und Gummibärchenvertriebe sind große Mode, die Zigarettenkioske machen mehr Umsatz mit Yu-Gi-Oh-Karten als mit Alkohol, und sogar in den Kneipen werden kinderfreundliche Pissoirs auf dreißig Zentimeter Höhe montiert. In unserem Kino laufen Kinderfilme in drei Sälen, die blutige Action ist in die kleinsten Räume verbannt. Und sogar beim Chinesen stehen Ketchupflaschen auf dem Tresen. Alle unsere Freunde, die als unabhängige Erwachsene in den Prenzlauer Berg gezogen sind, schieben jetzt Kinderwagen durch die Gegend. »Nein, morgen können wir nicht mit euch ›Alien versus Predator‹ gucken, wir gehen auf einen Kindergeburtstag«, sagen sie. Oder: »Wir müssen in den Zirkus.« Oder: »Wir haben Masern.«
»Na, dann bleibt lieber schön zu
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