Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ich bin kein Berliner

Ich bin kein Berliner

Titel: Ich bin kein Berliner Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kaminer Wladimir
Vom Netzwerk:
es los. Majakowski dachte, er hätte die Gabe, die Zukunft einschätzen zu können. Doch egal, was er prophezeite, es kam immer anders. Wie ein Sklave der staatlichen Lotterie zog er ein Los nach dem anderen, bekritzelte es mit Zahlen und gewann doch nie etwas. Das ging so bis zu seinem Selbstmord. Kurz zuvor hatte er noch ein überaus optimistisches Gedicht verfasst, in dem er seinen Kollegen Jessenin kritisierte, der sich die Pulsadern aufgeschnitten hatte:
     
    Unser Planet erweist für Späße wenig Gunst
Jede Freude muss dem Kommenden entrissen werden
Sich zu töten ist keine große Kunst
Schwerer ist das Leben bauen auf Erden
     
    - dichtete Majakowski und erschoss sich.
    Früher dachte ich, Majakowski hatte einfach Pech, eine falsche Lebenseinstellung. Heute denke ich jedoch, dass er wahrscheinlich wusste, dass das Leben immer weitergeht und jede Prophezeiung deswegen früher oder später wahr wird. Sogar mehrmals. Besonders deutlich wird das, wenn man seine damaligen Gedichte über Deutschland liest. Majakowski mochte das revolutionäre Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg, er war mehrmals in Berlin und hat hier viel prophezeit:
     
    Im Taxi den Kudamm hinsausend
reiße ich die Augen auf
 guck mal, Berlin
hat sich entschieden gemausert
so war es noch nicht im vorigen Jahr
Die Straßen sind glatt
die Deutschen sind satt
früher galt der Dollar als blendendste Strahlung
jetzt heißt es, wir nehmen nur Euro in Zahlung
Hier entsteht ein rot-rotes Berlin
Nicht lang wird’s in Kerkern und Vorstädten nisten
es bricht durch die Sperren, es kommt bestimmt!
erste Vorbotschaft
für Kommunisten hat ganz Lichtenberg neulich gestimmt
     
    Wenn ich das heute lese, begreife ich allmählich: Der Titel ist ganz egal, und wenn er heute nicht passt, wird er es morgen oder übermorgen tun. Und eines Tages, in gar nicht so ferner Zukunft, werden unsere Werke ihren Platz beim Trödler in der Dircksenstraße einnehmen: Ein anderer wird dann dort auf der Suche nach einem passenden Titel oder einem guten Buch die Regale durchkämmen und vielleicht auch auf dieses bescheuerte Majakowski-Gedicht stoßen:
     
    Dir Deutschland – mein großes Hallo
dir schenke ich keine Dollars zählend
ohne Vertrag, einfach so,
mein Gedicht – trotz Pleite und Defizit.
Nun ja, du und ich
wir zwei sind heute ziemlich elend – doch mir ist
dieses Elend der höchste Besitz! Und dir?
    TIPP:
    Das moderne Antiquariat in der Dircksenstraße existiert nicht mehr, ebenso eine Reihe anderer: Nach 1990 haben so viele abgewickelte Akademiker aus dem Osten ein Antiquariat aufgemacht, zumeist mit ebenfalls ausrangierten DDR-Büchern, dass die Branche sich jetzt gewissermaßen gesundschrumpft. Was es aber immer noch gibt, ist die »Bücherstadt« in Wünsdorf bei Zossen, wo man aus dem ehemaligen Hauptquartier erst der kaiserlichen, dann der nationalsozialistischen und dann der sowjetischen Armee einen Antiquariats-Supermarkt gemacht hat.

Berlin – eine Arbeiterstadt
    In vielen Gesprächen, die ich mit den unterschiedlichsten Leuten in der deutschen Provinz führte, konnte ich feststellen, dass Berlin einen schlechten Ruf hat. Man ist der Meinung, nahezu die gesamte deutsche Industrie befände sich in den südlichen Bundesländern, während im Norden immer weniger produziert wird, im Osten nur noch Rotkäppchen-Sekt, und in Berlin schon gar nichts mehr. Das sei eine Art Spaßstadt, die nur von Diskotheken, Tourismus und Gaststätten lebe. Die Bewohner hier seien allesamt Kneipenwirte, arbeitslos oder Studenten, die nichts anderes im Sinn hätten, als ihre Hauptstadtmacke auszuleben und ihre Löhne, Sozialhilfen oder Stipendien in den hauptstädtischen Beizen auf der einen oder auf der anderen Seite des Tresens zu versaufen.
    Das ist doch eine krasse Lüge, dachte ich. Berlin verfügt durchaus über Industriebetriebe und Fabriken. Hier wird zum Beispiel Bier gebraut und Katzenfutter hergestellt. Die Qualität des Berliner Theaterbluts ist weltberühmt, der Berliner Birkensaft wird sogar nach Russland exportiert. Also wollte ich meine Fernsehkolumne im ZDF einmal dem Thema »Leben und Ackern in Berlin« widmen, um allen zu zeigen, wie hart die Berliner schuften. Es sollte ein umfassender Bericht werden.
    Eine passende Produktionsstätte ließ sich schnell finden: die Bonbonfabrik in der Oranienburger Straße. Sie hat den ganzen Tag geöffnet und ist mit zweieinhalb Arbeitskräften besetzt. Ich bereitete mich gründlich auf die Sendung vor, wobei ich unter

Weitere Kostenlose Bücher