Ich bin Malala: Das Mädchen, das die Taliban erschießen ...
»Seht euch diesen Mann an«, schien es zu sagen. »Ich bin ein Khan. Wer würde wagen, mich aus dieser Gegend zu vertreiben?«
Mein Vater kam ganz frustriert nach Hause. »Ich habe eine Schule, aber ich bin weder ein Khan noch ein politischer Führer«, sagte er. »Ich bin nur ein kleiner Mann.«
8
Der Herbst des Erdbebens
A ls ich noch in die Grundschule ging, gerieten an einem schönen Oktobertag unsere Pulte ins Wackeln. In dem Alter besuchten wir noch gemischte Klassen, und alle Jungen und Mädchen schrien: »Erdbeben!« Wir Kinder scharten uns um unsere Lehrkräfte wie Küken um ihre Hühnermutter.
Das Swat liegt an einer geologischen Bruchlinie, und wir hatten häufig Erdbeben. Doch diesmal fühlte es sich anders an. Sämtliche Gebäude ringsum wackelten, und das Grollen hörte nicht auf. Die meisten von uns weinten, und unsere Lehrer beteten. Miss Rubi, eine meiner Lieblingslehrerinnen – wir redeten all unsere Lehrerinnen mit »Miss« an, unsere Lehrer mit »Sir« –, also Miss Rubi sagte, wir sollten aufhören zu weinen und Ruhe bewahren, es werde bald vorbei sein.
Sobald das Beben nachgelassen hatte, wurden wir nach Hause geschickt. Wir trafen unsere Mutter auf einem Stuhl sitzend an, sie hielt den Koran in der Hand und sagte unentwegt Verse auf. In einer Notlage beten die Menschen viel.
Sie war erleichtert, als sie meine Brüder und mich sah, und umarmte uns. Tränen strömten ihr übers Gesicht. Aber den ganzen Nachmittag über kamen Nachbeben, und unsere Angst wurde nicht geringer.
Wieder einmal waren wir umgezogen – als ich dreizehn wurde, waren wir siebenmal umgezogen. Jetzt wohnten wir zeitweise in einem gemieteten Haus, für Mingora war es hoch – es hatte zwei Etagen –, zudem gab es einen großen Wassertank auf dem Dach. Meine Mutter fürchtete, das Gebäude könnte über uns einstürzen, deswegen gingen wir immer wieder nach draußen.
Mein Vater kehrte erst bei Einbruch der Dunkelheit nach Hause zurück, weil er damit beschäftigt gewesen war, sämtliche Gebäude der Schule zu inspizieren.
Als es Nacht wurde, bebte die Erde weiterhin, und meine Mutter geriet in Panik. Jedes Mal, wenn wir ein Beben spürten, dachten wir, der Tag des Jüngsten Gerichts sei gekommen. »Wir werden in unseren Betten begraben«, weinte sie. Unbedingt wollte sie, dass wir fortgingen. Doch mein Vater war erschöpft, auch glauben wir Muslime, dass unser Schicksal von Gott bestimmt ist. Darum brachte er mich und meine Brüder Khushal und Atal – Atal war damals noch ein Baby – ins Bett. »Geht, wohin ihr wollt«, sagte er zu meiner Mutter und meiner Kusine. »Ich bleibe. Wenn ihr an Gott glaubt, bleibt ihr auch hier.« Bei einer schlimmen Katastrophe, wenn unser Leben in Gefahr ist, erinnern wir uns an unsere Sünden und daran, ob sie uns vergeben werden. Aber Gott hat uns auch die Fähigkeit geschenkt, vergessen zu können, so dass wir, wenn die Tragödie vorüber ist, weitermachen, als wäre nichts geschehen. Ich verließ mich auf das Vertrauen meines Vaters, habe aber auch die tiefe Besorgnis meiner Mutter verstanden!
Das Erdbeben am 8 . Oktober 2005 erwies sich als eines der schlimmsten Pakistans. Mit einer Stärke von 7 , 6 auf der Richterskala war es bis nach Kabul und Delhi zu spüren. Mingora wurde weitgehend verschont, nur wenige Gebäude stürzten ein. Doch das benachbarte Kaschmir und die Gebiete im Norden Pakistans wurden verwüstet. Sogar in Islamabad fielen Gebäude in sich zusammen.
Erst nach einer Weile wurde uns klar, wie verheerend das Beben gewesen war. Das Fernsehen berichtete über das Ausmaß der Zerstörung, ganze Dörfer waren verwüstet. Abgerutschte Erd- und herabgestürzte Gesteinsbrocken blockierten den Zugang zu den am schwersten betroffenen Gebieten, Telefon- und Stromleitungen waren zerstört.
Als die Verwüstungen in den Nachrichten gezeigt wurden, sahen wir, dass ganze Dörfer aus nichts als Schutt und Staub bestanden. Das Erdbeben hatte 30000 Quadratkilometer in Mitleidenschaft gezogen – ein Gebiet von der Größe des US -Bundesstaats Connecticut. Die Zahlen waren unfassbar. Es gab über 73000 Tote und 128000 Verletzte, viele davon blieben für immer verkrüppelt. Rund dreieinhalb Millionen Menschen hatten ihr Heim verloren. Straßen, Brücken und Strom – nichts funktionierte mehr. Ortschaften wie Balakot, die wir einst besucht hatten, waren fast vollständig zerstört.
Viele der Getöteten waren Kinder, die wie ich an jenem Morgen in der Schule
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