Ich bin Malala: Das Mädchen, das die Taliban erschießen ...
vom Hals zu kriegen?«
»Leider kann ich das nicht, Ziauddin«, antwortete der Mann. »Ich habe selbst Schwierigkeiten mit ihm. Er wohnt bei uns zu Hause und hat seiner Frau befohlen, die Purdah-Regeln strengstens zu befolgen. Auch unsere Frauen müssen das tun. Unsere Frauen sind wie Schwestern für ihn, und seine Frau ist wie eine Schwester für uns, aber dieser Verrückte hat unser Haus in die reinste Hölle verwandelt. Es tut mir sehr leid, aber ich kann Ihnen wirklich nicht helfen.«
Mein Vater hatte recht, wenn er glaubte, dass dieser Mann nicht aufgeben würde – Mullahs hatten seit Zias Regentschaft und seiner Kampagne zur Islamisierung viel Aufwind erfahren.
In gewissen Dingen unterschied sich General Musharraf sehr von General Zia. Er trug zwar auch meistens Uniform, jedoch hin und wieder westliche Anzüge, zudem nannte er sich Regierungschef anstatt Oberster Kriegsrechtsverwalter. Er hielt sich kleine Hunde, die bei uns Muslimen als unrein gelten. Die Islamisierung wurde unter seiner Führung durch etwas ersetzt, was er »maßvolle Öffnung« nannte. Er sorgte für eine größere Freiheit der Medien, ließ neue, private Fernsehsender zu und lockerte manche Restriktionen. Es durfte im Fernsehen Tanz gezeigt werden, es gab Nachrichtensprecherinnen, außerdem war es erlaubt, westliche Feiertage wie den Valentinstag oder Silvester zu feiern. Musharraf genehmigte ein jährliches Popkonzert am Abend des Unabhängigkeitstags, das landesweit übertragen wurde. Er tat sogar etwas, das selbst unsere demokratischen Führer nie getan hatten, auch Benazir nicht: Er annullierte das Gesetz, das einer Frau vorschrieb, vier männliche Zeugen beizubringen, wenn sie beweisen wollte, dass sie vergewaltigt worden war. Er ernannte die erste Frau zur Vorsitzenden der Staatsbank und die ersten Pilotinnen und weiblichen Küstenwachen. Und er kündigte an, dass es künftig an der Grabstätte von Jinnah in Karachi weibliche Wachen geben sollte.
Doch in unserer paschtunischen Heimat in der nordwestlichen Grenzprovinz waren die Dinge ganz anders. 2002 hielt Musharraf Wahlen zu einer »kontrollierten Demokratie« ab. Es waren eigenartige Wahlen, weil die Führer der großen Parteien, Nawaz Sharif und Benazir, im Exil waren. In unserer Provinz brachten diese Wahlen eine von uns so bezeichnete »Mullah-Regierung« an die Macht. Es war die Muttahida-Majlis-e-Amal-Allianz, die Vereinigte Aktionsfront MMA , die von Jamaat-e-Islami ( JI ) gegründet wurde, der größten religiösen Partei des Landes. Sie umfasste fünf weitere religiöse Parteien, darunter die Jamiat Ulema-e-Islam ( JUI ), die jene islamischen Religionsschulen betrieb, in denen die Taliban ausgebildet wurden. Die Leute bezeichneten die MMA im Scherz als »Mullah-Militär-Allianz« und meinten, die Mullahs seien nur gewählt worden, weil sie die Unterstützung Musharaffs hatten. Einige von uns hatten ebenfalls den Mullahs ihre Stimme gegeben, weil die besonders religiösen Paschtunen erzürnt waren über die amerikanische Invasion in Afghanistan und die Absetzung der Taliban. Die Linken hingegen betrachteten dies insgeheim als Segen.
Unsere Gegend war schon immer konservativer als die meisten anderen Gebiete Pakistans. Während des afghanischen Dschihad entstanden hier einige Madaris, die meisten mit saudischem Geld. Viele junge Männer waren durch diese Schule gegangen, weil der Unterricht dort kostenlos war. Das war der Beginn dessen, was mein Vater die »Arabisierung« Pakistans nannte. Und seit dem 11. September fanden die militanten Strömungen vermehrt Zulauf. Wenn man die Hauptstraße entlangging, sah man überall mit Kalk auf die Häuser geschriebene Aufrufe für die Ausbildung zum Gotteskrieger. »Dschihad-Training. Meldet euch!« stand da, und dann folgte eine Telefonnummer. Damals konnten die Dschihad-Gruppen machen, was sie wollten. Sie sammelten öffentlich Spenden und rekrutierten Männer. Es gab sogar einen Schulleiter, der sich damit brüstete, sein größter Erfolg sei es, zehn Jungen aus der neunten Klasse zum Dschihad-Training nach Kaschmir geschickt zu haben.
Unsere MMA-Regierung wollte neben einem CD - und DVD -Verbot auch eine Sittenpolizei einführen, wie sie die afghanischen Taliban hatten. Zum Beispiel durfte eine Frau, die in Begleitung eines Mannes unterwegs war, auf der Straße angehalten und aufgefordert werden zu beweisen, dass sie mit dem Mann verwandt war. Glücklicherweise wurde diese Idee vom Obersten Gerichtshof gestoppt. MMA
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