Ich bin Malala: Das Mädchen, das die Taliban erschießen ...
erst seit 2012 erlaubt. Kaum eine Frau von dort kann lesen. Die Menschen sind für ihre Wildheit und ihren Freiheitsdurst bekannt, wie jeder weiß, der schon einmal englische Erzählungen über diese Zeit gelesen hat.
Unsere Armee war vorher noch nie in den Stammesgebieten gewesen. Stattdessen hatte man auf die gleiche Art und Weise ein gewisses Maß an Kontrolle und Präsenz ausgeübt wie früher die Briten: Die Militärs hielten sich mit ihrer Präsenz zurück und bauten stattdessen auf die unter Paschtunen rekrutierten Grenzkorps.
Die Entsendung von Truppen war eine problematische Entscheidung. Nicht nur, weil unsere Armee und der Geheimdienst tief verwurzelte Bindungen haben. Unsere Truppen mussten gegen ihre eigenen paschtunischen Brüder kämpfen.
Das erste Stammesgebiet, in das die Armee im März 2004 einmarschierte, war Süd-Waziristan. Wie vorherzusehen war, empfand die dortige Bevölkerung dies als Angriff auf ihre Lebensweise; es kam zum Aufstand. Anders als im Swat tragen alle Männer dort Waffen, und als die Einheimischen rebellierten, wurden Hunderte Soldaten getötet.
Die Armee stand unter Schock. Manche Soldaten weigerten sich zu kämpfen, weil sie nicht das eigene Volk angreifen wollten. Nur zwölf Tage später wurde der Rückzug befohlen, und man gelangte zu einem, wie es die Militärs nannten, »ausgehandelten Friedensabkommen« mit militanten lokalen Führern wie zum Beispiel Nek Muhammad. Im Prinzip bedeutete dies nichts weiter, als sie mit Bestechungsgeldern zu dem Versprechen zu bewegen, sämtliche Angriffe einzustellen und fremde Kämpfer fernzuhalten. Die militanten Taliban benutzten das Geld aber nur zum Kauf neuer Waffen und nahmen schon kurze Zeit später ihre Aktivitäten wieder auf.
Ein paar Monate darauf kam es zur ersten Attacke einer US -Drohne in Pakistan. Am 17 . Juni 2004 warf ein unbemannter Predator eine Hellfire-Rakete über Süd-Waziristan auf Nek Muhammad ab, während er per Satellitentelefon ein Interview gab.
Er und die Männer um ihn herum waren sofort tot. Die Einheimischen hatten keine Ahnung, was geschehen war – wir wussten damals noch nicht, dass die Amerikaner zu so etwas in der Lage waren. Man mochte von Nek Muhammad halten, was man wollte, aber wir waren nicht im Krieg mit den Amerikanern und absolut entsetzt darüber, dass sie Menschen auf unserem Grund und Boden töten konnten. Über alle Stammesgrenzen hinweg waren die Menschen wütend, und viele schlossen sich damals diversen radikalen Gruppen an oder gründeten Lashkar s, lokale Milizen.
Erneut kam es zu Angriffen. Die Amerikaner sagten, Aiman al- Sawahiri, Bin Ladens rechte Hand, würde sich in Bajaur versteckt halten und hätte eine Frau von dort geheiratet. Im Januar 2006 traf ein wahrscheinlich auf ihn abgezielter Drohnenangriff ein Dorf namens Damadola, bei dem drei Häuser zerstört und 18 Menschen getötet wurden. Die Amerikaner sagten, er sei gewarnt worden und hätte entkommen können. Im gleichen Jahr, am 30 . Oktober, traf eine weitere amerikanische Predator-Drohne eine Madrasa auf einem Hügel in der Nähe der Hauptstadt Khar und tötete 82 Menschen, darunter viele kleine Jungen. Die Amerikaner sagten, es habe sich um ein Trainingslager von al-Qaida gehandelt, das auf Videos der Terrorvereinigung zu sehen gewesen sei, und behaupteten außerdem, der Hügel sei von Tunneln und Geschützstellungen durchzogen.
Nur wenige Stunden nach dem Angriff kündigte ein einflussreicher Religionsgelehrter namens Faqir Mohammad, der Leiter der
madrasa,
an, die Toten durch Selbstmordattentate gegen pakistanische Soldaten zu rächen.
Mein Vater und seine Freunde waren in großer Sorge und riefen die Dorfältesten zu einer Friedenskonferenz zusammen. Obwohl es ein bitterkalter Januarabend war, versammelten sich 150 Leute.
»Es wird herkommen«, warnte mein Vater. »Das Feuer erreicht unser Tal. Lasst uns die Flammen des bewaffneten Kampfes löschen, ehe sie hier sind.«
Doch niemand hörte auf ihn. Manche lachten sogar über seine Warnungen, darunter ein örtlicher führender Politiker, der in der ersten Reihe saß.
»Herr Khan«, sagte mein Vater. »Sie wissen, was mit den Afghanen passiert ist. Sie sind zu Flüchtlingen geworden, und sie leben hier bei uns. Nun geschieht dasselbe mit den Menschen in Bajaur. Und auch uns wird dasselbe passieren, denken Sie an meine Worte. Und wir werden nirgendwohin fliehen können, nirgendwohin emigrieren.«
Der Vorsitzende machte ein spöttisches Gesicht.
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