Ich bin Malala: Das Mädchen, das die Taliban erschießen ...
-Aktivisten verübten Anschläge auf Kinos und rissen Werbetafeln herunter, auf denen Frauen zu sehen waren, oder bemalten sie mit schwarzer Farbe. Sie holten sogar weibliche Schaufensterpuppen aus den Geschäften. Sie belästigten Männer, die statt des Shalwar Kameez westliche Hosen und Hemden trugen, und zwangen Frauen dazu, den Kopf zu bedecken. Es machte den Eindruck, als wollten sie alle sichtbaren Anzeichen für Weiblichkeit aus der Öffentlichkeit verbannen.
Die Oberschule meines Vaters wurde 2003 eröffnet. Im ersten Jahr wurden Jungen und Mädchen noch gemeinsam unterrichtet. Doch schon 2004 hatte sich das Klima gewandelt. Nun war es undenkbar geworden, Mädchen und Jungen gemeinsam zu unterrichten. Dieser Wandel machte Ghulamullah dreist. Einer der Schulangestellten erzählte meinem Vater, dass er ständig in die Schule käme und wissen wolle, warum die Mädchen noch immer den Haupteingang benutzen würden. Er berichtete weiter, eines Tages hätte ein Schulmitarbeiter eine Lehrerin auf die Hauptstraße begleitet, um für sie eine Rikscha anzuhalten, und der Maulana hätte gefragt: »Wieso hat dieser Mann sie hinausbegleitet? Ist er ihr Bruder?«
»Nein«, hatte der Angestellte geantwortet. »Er ist ein Kollege.«
»Das darf nicht sein!«, erwiderte der Maulana.
Mein Vater bat den Angestellten, ihm das nächste Mal, wenn der Maulana auftauchte, Bescheid zu geben. Als dann ein solcher Anruf kam, ging er zusammen mit dem Islamlehrer hinaus, um ihn zur Rede zu stellen.
»Maulana, Sie treiben mich zum Wahnsinn!«, sagte er. »Für wen halten Sie sich? Sie sind verrückt! Sie müssen zum Arzt. Glauben Sie, ich ziehe mich nackt aus, sobald ich die Schule betreten habe? Sie sehen einen Jungen zusammen mit einem Mädchen und sehen sofort den Skandal. Das sind Schulkinder. Ich glaube wirklich, Sie sollten zu Doktor Haider Ali gehen!«
Doktor Haider Ali ist ein bekannter Psychiater in unserer Gegend, und wenn man sagt: »Sollen wir dich zu Doktor Haider Ali bringen?«, heißt das eigentlich: »Bist du irre?«
Der Mufti verstummte. Er nahm den Turban ab und legte ihn meinem Vater in den Schoß. Für uns ist der Turban ein äußeres Symbol von Hochherzigkeit und Paschtunentum, und der »Fall« des Turbans wird als große Entehrung betrachtet.
Doch dann fing er wieder an. »Das habe ich zu dem Angestellten nie gesagt. Er lügt.«
Meinem Vater reichte es. »Sie haben mit dieser Schule nichts zu schaffen«, rief er. »Verschwinden Sie!«
***
Dem Mufti war es nicht gelungen, unsere Schule zu schließen, aber seine Einmischungen waren Anzeichen dafür, wie sehr sich unser Land veränderte.
Mein Vater machte sich Sorgen. Er und seine Mitstreiter hielten endlose Versammlungen ab, in denen es schon lange nicht mehr nur darum ging, die Leute am Abholzen der Bäume zu hindern, sondern auch um Bildung und Demokratie.
Im Jahr 2004 , nachdem er dem Druck aus Washington über zweieinhalb Jahre standgehalten hatte, entsandte General Musharraf seine Truppen in die FATA , in die Federal Administered Tribal Areas, die sieben Stammesgebiete unter Bundesverwaltung an der Grenze zu Afghanistan. Dort hatte die Regierung kaum etwas zu melden. Die Amerikaner behaupteten, dass militante al-Qaida-Mitglieder, die während des US -Bombardements aus Afghanistan geflohen waren, die Gegend als sicheren Hafen be- und unsere paschtunische Gastfreundschaft ausnutzten. Von dort aus führten sie angeblich ihre Ausbildungslager und steuerten Angriffe auf NATO -Truppen jenseits der Grenzen.
Für uns im Swat war das sehr nah an unserem Zuhause. Eines der sieben Stammesgebiete, Bajaur, liegt direkt nebenan. Die Menschen, die dort leben, gehören auch Paschtunen-Stämmen an und haben wie wir Yousafzai auf beiden Seiten der Grenze zu Afghanistan ihre Heimat.
Die sieben Stammesgebiete wurden unter britischer Oberhoheit als Pufferzone zu Afghanistan geschaffen. Sie werden noch heute so geführt, verwaltet von den Stammesoberhäuptern oder den Ältesten, die wir als
malik
bezeichnen. Unglücklicherweise sind diese Maliks nicht anders als andere Menschen. In Wirklichkeit werden die Stammesgebiete überhaupt nicht verwaltet. Es sind vergessene Gegenden, rauhe Felsentäler, wo die Menschen vom Schmuggel leben. Das durchschnittliche Jahreseinkommen beträgt gerade mal 250 US -Dollar – die Hälfte von dem, was in Pakistan jährlich verdient wird. Es gibt dort kaum Krankenhäuser und Schulen, vor allem für Mädchen nicht, und politische Parteien sind
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