Ich bin Malala: Das Mädchen, das die Taliban erschießen ...
telefonierte – offensichtlich hatte er jemand anderen gemeint.
Es war aufregend, meine Worte auf der Website zu lesen. Am Anfang war ich noch etwas schüchtern, doch recht bald wusste ich, auf welche Dinge Hai Kakar aus war – und wurde selbstbewusster. Er mochte persönliche Gefühle und das, was er meine »messerscharfen Sätze« nannte, die Mischung aus Alltagsleben und dem Terror der Taliban.
Sehr viel schrieb ich über die Schule, weil sie das Zentrum unseres Lebens war. Ich liebte meine königsblaue Schuluniform, doch wir waren jetzt angewiesen worden, stattdessen normale Sachen anzuziehen. Ein Blog-Beitrag hieß: »Tragt keine bunten Kleider.« Darin hielt ich fest, wie ich mich eines Tages für die Schule fertig machte und gerade meine Uniform anziehen wollte, als mir die Anweisung unserer Direktorin einfiel und ich an diesem Tag beschloss, statt der Uniform mein rosarotes Lieblingskleid anzuziehen.
Auch über die Burka tat ich meine Meinung kund. Wenn man noch klein ist, liebt man dieses den ganzen Körper verhüllende Gewand, weil man sich damit so wunderbar verkleiden kann. Aber wird man gewaltsam gezwungen, es zu tragen, ist das etwas anderes. Außerdem ist es schwierig, damit zu gehen! Einer meiner Tagebucheinträge drehte sich um einen Vorfall, den ich beobachtet hatte, als ich mit meiner Mutter und meiner Kusine im Cheena-Basar beim Einkaufen war. Dort hörten wir, eine Frau in einer Burka sei gestürzt. Als ein Mann sich anbot, ihr aufzuhelfen, weigerte sie sich: »Steh mir nicht bei, Bruder, das hilft nur Fazlullah.« Als wir den Laden betraten, in dem sich der Vorfall ereignet hatte, meinte der Inhaber, er habe schon Angst bekommen, sie hätte auch eine Selbstmordattentäterin sein können. Die würden ja häufig die Burka tragen.
In der Schule wurde das Tagebuch bald Thema. Ein Mädchen hatte es sogar ausgedruckt mitgebracht, um es meinem Vater zu zeigen.
»Das ist sehr gut«, sagte er mit einem wissenden Lächeln.
Gern hätte ich erzählt, dass ich die Verfasserin der Blog-Beiträge war, doch Hai Kakar hatte geraten, dies nicht zu tun, es könne gefährlich für mich werden. Ich verstand nicht, warum. Ich sah mich noch als Kind, und wer würde schon ein Kind angreifen?
Einigen meiner Freundinnen aber kamen bestimmte Ereignisse sehr bekannt vor. Und einmal hätte ich mich fast verplappert, als ich in einem Eintrag schrieb: »Meine Mutter mochte mein Pseudonym Gul Makai, und im Scherz sagte sie einmal zu meinem Vater, dass sie meinen Namen ändern sollten … Gul Makai gefällt mir übrigens auch, denn mein richtiger Name bedeutet genau genommen ›kummervoll‹.«
Das Tagebuch von Gul Makai erfuhr jedenfalls viel Aufmerksamkeit. Es wurde sogar in ein paar Tageszeitungen abgedruckt. Und die BBC nahm es mit der Stimme eines anderen Mädchens als Hörfassung auf.
Langsam begriff ich, dass ein Stift und die Wörter, die mit ihm geschrieben werden, viel mächtiger sein können als Maschinengewehre, Panzer oder Hubschrauber. Wir lernten, uns zu wehren. Und wir lernten, wie mächtig wir sein können, wenn wir unsere Stimme erheben.
Manche Lehrer kamen nicht mehr zur Schule. Einer von ihnen hatte sein Fortbleiben damit begründet, dass er von Mullah Fazlullah aufgefordert worden sei, beim Aufbau seines Hauptquartiers in Imam Deri zu helfen, das die Armee zerstört hatte. Ein anderer sagte, er hätte auf dem Weg zur Schule eine geköpfte Leiche gesehen, aus diesem Grund könne er sein Leben nicht länger mit Unterrichten aufs Spiel setzen.
Unsere Nachbarn berichteten, die Taliban würden die Menschen auffordern, in der Moschee ihre unverheirateten Töchter zu melden, damit man sie verheiraten könne, wohl an militante Kämpfer.
Januar 2009 gingen statt 27 Schülerinnen nur noch zehn Mädchen in meine Klasse. In den ländlichen Gebieten waren Hunderte von Schulen von den Taliban gesprengt worden, und viele Familien verließen das Tal, damit die Töchter in Peshawar zur Schule gehen konnten. Mein Vater bestand darauf, die Stellung zu halten. »Das Swat hat uns so viel gegeben. In diesen schweren Zeiten müssen wir für unser Tal da sein«, sagte er.
Eines Abends waren wir alle zum Abendessen bei einem Freund meines Vaters eingeladen. Dr. Afzal betrieb ein Krankenhaus, und nach dem Essen brachte er uns zusammen mit seinem kleinen Sohn in seinem Auto nach Hause. Auf dem Rückweg sahen wir zu beiden Seiten der Straße vermummte Taliban mit Gewehren stehen. Wir alle hatten furchtbare
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