Ich bin Nummer Vier
zu trösten. Wieder ein Donnerschlag, wieder eine Gewehrsalve. Sie küsst mich einmal auf den Mund, ihre Hände halten mein Gesicht, und ich weiß, sie würde am liebsten für immer so verharren. Mark zieht sie weg.
»Ich liebe dich«, flüstert sie und blickt mich so an, wie ich sie angesehen habe, bevor ich den Unterricht verließ – als würde sie mich zum letzten Mal sehen und sich dieses letzte Bild einprägen, damit es ihr ein Leben lang bliebe.
»Ich liebe dich auch«, sage ich tonlos, während die beiden gerade schon die Stufen zum Gang erreichen. In diesem Moment höre ich einen Schmerzensschrei von Henri. Ein Scout hat ihm ein Messer in den Bauch gestoßen. Er zieht das Messer heraus, an der Klinge glitzert das Blut. Der Mogadori will Henri ein zweites Mal verwunden, doch ich strecke die Hand aus und entreiße ihm das Messer in letzter Sekunde, sodass nur die Faust Henri trifft. Er unterdrückt ein Stöhnen, presst den Gewehrlauf ans Kinn des Scouts und schießt. Der Scout bricht kopflos zusammen.
Der Regen kommt. Ein kalter, schwerer Regen. Sofort bin ich bis auf die Knochen durchnässt. Blut rinnt Henri aus dem Bauch. Er zielt in die Dunkelheit, aber alle Scouts sind in die Schatten zurückgewichen, fort von uns, und Henri hat kein wirkliches Ziel. Sie sind offenbar nicht mehr daran interessiert, uns anzugreifen, sie wissen, dass zwei von uns sich zurückgezogen haben und ein Dritter verwundet ist. Sechs greift immer noch nach dem Himmel. Der Sturm ist stärker geworden, er beginnt zu heulen. Sie scheint Schwierigkeiten zu haben, das Wintergewitter im Januar zu kontrollieren.
So schnell wie alles kam, verzieht es sich – der Donner, der Blitz, der Regen. Der Wind legt sich. Ein leises Stöhnen in der Ferne wird lauter. Sechs lässt die Arme sinken, wir alle horchenangestrengt. Das Stöhnen wächst, es kommt immer näher und wird zu einem tiefen, mechanischen Brummen. Die Mogadori treten aus den Schatten und fangen an zu lachen. Wir haben mindestens zehn von ihnen getötet, aber auf einmal sind sie viel zahlreicher als zuvor. Über den Baumwipfeln steigt eine Rauchwolke auf, als käme jeden Augenblick eine Dampfmaschine um die Kurve. Die Scouts nicken einander zu, grinsen hinterhältig und bilden wieder ihren Kreis um uns, offenbar wollen sie uns zurück in die Schule treiben. Und offenbar haben wir keine Wahl. Sechs läuft herüber.
»Was ist das?«, frage ich.
Henri hinkt, das Gewehr hängt an seiner Seite. Er atmet schwer, hat eine Wunde unter dem rechten Auge und einen runden Blutfleck von der Messerwunde auf dem grauen Pullover.
»Das sind die übrigen, nicht wahr?«, fragt Henri Sechs.
Sie schaut ihn unglücklich an. Ihre Haare sind nass und kleben an ihrem Gesicht. »Die Bestien«, sagt sie. »Und die Fighter. Sie sind hier.«
Henri lädt das Gewehr und holt tief Luft. »Und so beginnt der richtige Kampf. Ich weiß nicht, wie ihr zwei das seht, aber wenn es sein muss, dann muss es sein. Ich jedenfalls …« Er verstummt. »Ich jedenfalls will verdammt sein, wenn ich ohne Kampf umkomme.«
Sechs nickt. »Unser Volk hat gekämpft bis zuletzt. Und so werde ich es auch tun.«
Eine Meile entfernt steigt immer noch Rauch hoch.
Lebendige Fracht! ,
denke ich.
So transportieren die Mogadori sie, in übergroßen Sattelschleppern!
Sechs und ich folgen Henri die Stufen hinunter. Ich schreie nach Bernie Kosar, aber er ist nirgendwo zu sehen.
»Wir können nicht noch einmal auf ihn warten«, mahnt Henri. »Wir haben keine Zeit.«
Ich schaue ein letztes Mal in die Runde, dann schlage ich die Kellertür zu. Wir laufen zurück durch den Gang, hinauf auf die Bühne, durch die Turnhalle. Weder ein Scout noch Mark und Sarah sind zu sehen. Ich hoffe, die beiden sind gut versteckt, Mark hält sein Versprechen und sie bleiben, wo sie sind. Vor dem Hauswirtschaftsraum rücke ich den Kühlschrank weg und hole den Kasten. Henri und ich öffnen ihn. Sechs nimmt den heilenden Stein heraus und drückt ihn auf Henris Bauch. Er schweigt, schließt die Augen, hält den Atem an. Sein Gesicht ist rot vor Anstrengung, aber kein Laut entschlüpft ihm. Nach einer Minute entfernt Sechs den Stein. Der Schnitt ist verheilt. Henri atmet aus, seine Stirn ist schweißüberströmt.
Dann bin ich an der Reihe. Sie drückt den Stein auf die Wunde an meinem Kopf und ein Schmerz, schlimmer als alles, was ich je gespürt habe, zerreißt mich. Ich ächze und stöhne, jeder Muskel in meinem Körper ist angespannt. Ich kann nicht atmen,
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