Ich bin schizophren und es geht mir allen gut
Mann.
Der Mann ist halbglatzig, fett, Bauarbeiter und impotent, deshalb hat er auch nur einen hässlichen, selbstgestrickten Pullover verdient. Melissa bedeutet für die Mutter Hoffnung, pure glänzende Hoffnung auf irgendwas mit Zukunft.
Eigentlich will Melissa aber Rockstar werden und keine Tierärztin. Tiere sind ihr scheißegal und Geld eigentlich auch. Sie will in einer Welt aus Dreck und Gitarrenakkorden leben, ein Kombinat aus einem Leben im Bus und Gefühlsausbrüchen auf Bühnen. Sie will eine Ernährung gemischt aus Tankstelle und Rastplatz. Sie will Hörstürze provozieren und Typen, die vor ihrer Garderobentür stehen - so geile Emotypen sollen das sein. Solche, von denen man nur das halbe, irgendwie traurig geartete Gesicht sieht, weil die andere Gesichtshälfte von Haaren bedeckt ist, und diese Emoboys wollen alle nur an ihrer Aura lecken. Und sie wird es selektiv sogar zulassen, dass sie von Emojungs an ihrer Aura geleckt wird. Soweit zu Melissas Träumen. Außerdem will sie Piercings und Tätowierungen, bis sie als stylisches Gesamtkunstwerk Anerkennung findet. Bislang hat die Mutter jede Form von Körperschmuck und selbstherbeigeführten Löchern strikt verboten. Wie sähe das denn aus, eine Tierärztin mit Nasenlöchern oder bunten Armen. Melissa hatte kurz geweint und wusste, dass sie das erste Lied auf ihrem ersten Album ihrer Mutter widmen würde, und es würde sehr schlicht "Fuck you" heißen. Es wäre ein aggressives Lied und es würde wenig Text haben und vielleicht mit nur zwei Akkorden auskommen, aber es käme auf jeden Fall auch eine Kettensäge darin vor, die der Mutter wichtige Teile wegamputiert.
"Isst du noch 'ne Pommes mit?" Die Mutter fragt, die Tochter nickt. Draußen gehen die beiden auf einen stinkenden Schnellimbiss zu und die Mutter macht auf Familie und bietet der Tochter was Schnelles, Warmes aus der Fritteuse an. Melissa weiß, dass das fett macht, sagt aber ja, um ihre Mutter nicht zu beunruhigen. Sie kann das ja später wieder auskotzen. Kurz darauf sitzen die beiden bei Currywurst, Pommes und Cola (immerhin light) zusammen und ernähren sich deftig. "Sag mal", beginnt die Mutter ein Gespräch, "dieses Musikfestival, wo du mit der Charlotte hinfährst, wie heißt das nochmal?" "Hurricane Festival", antwortet Melissa schmatzend, "da spielen tolle Bands." Melissa lächelt wie ein Mädchen, das ihre Rockseele verleugnet. "Hast du denn jetzt alles dafür?", will die Mutter nochmal wissen. "Ja, Mama, alles zusammen, der Stuhl muss auch mit." Die Mutter ist eine ängstliche Mutter, die Tochter wird bald drei Tage außer Haus sein, um zu einem Fest zu gehen, dessen Namen sie weder einordnen noch aussprechen kann. Aber er klingt bedrohlich: Hurricane-Festival. Melissa tanzt im Kopfkino der Mutter zu verzerrten Gitarren und überdrehten Schlagzeugen, voll mit illegalen Substanzen, und wird danach von gesichtstätowierten Motorradfahrern hergenommen, die an der wehrlosen Melissa Dinge vornehmen, die sich Tiere ausgedacht haben. Melissa läge dann da, nur mit Unterwäsche bekleidet, und bärtige Männer würden sie zunächst schänden und dann grillen. Diese Gedanken passen auf keine Blumenwiese, sie sind einfach nur schlimm. Einen Moment lang hat die Mutter ein "Du fährst nicht!" ganz vorn auf der Zungenspitze, schluckt den unpädagogischen Satz dann aber wieder runter und im Magen tut der Satz weh und richtet Unruhe und Verdauungsstörungen an.
Mutter und Tochter kauen Fritten und saugen aus Halmen Cola light in sich hinein. "Soll sie doch ihre Jugend haben, die Kleine, und Erfahrungen machen, die ich nie hatte, aber nur bis zu dem Punkt, wo sie noch Tierärztin werden kann." Das denkt die Mutter in ihrer Hausfrauenart und guckt die Tochter an, die ihrerseits nach draußen guckt und verstört und lieblos in ihre Pommes sticht. Die Mutter zahlt, die beiden fahren heim.
Drei Tage später steht Charlotte mit ihrem vom dreijährigen Prospekteverteilen finanzierten Opel Corsa, Baujahr 1992, vor dem Haus und hupt. Charlotte hat das Radio voll aufgedreht und eine Ich-bin-Popstar-und-keiner-soll-mich-erkennen-Ganzgesichtssonnenbrille auf. Melissa umarmt auf der Türschwelle ihre besorgte Mutter, aber geistig ist sie schon mit Dosenbier bewaffnet und singt komische Lieder von den "Foo Fighters" oder ähnliches Rockzeugs auf einem Campingplatz mit sogenannten Gleichgesinnten.
Die beiden Mädchen fahren los, verlassen den Ort, Charlotte hat ähnlichen pädagogischen Druck wie Melissa
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