Ich bin schizophren und es geht mir allen gut
die fünfzehn Minuten Zeit zur Darbietung seiner literarischen Ergüsse. Ich sollte damals an vierter Stelle lesen. Niemand kannte mich in dem Saal außer meiner damaligen Freundin, die aber nur ungefähr wusste, was ich so mache, und mit dem Text nicht vertraut war, den ich darzubieten gedachte. Vor mir lasen ein Mann, der von einem Bootstrip über irgendeinen Fluss in China palaverte, eine Dame, die eine Kinderhorrorgeschichte in unspannend darbot, und eine Emotussi, die bei ihren Schneegedichten zu heulen begann. Jeder bekam für seine Darbietung vom circa fünfzigköpfigen Publikum Applaus, sogar die Emotussi, als sie darüber zu heulen begann, wie schlimm es ist, den Namen des ehemals Geliebten in den Schnee zu malen, nur um diesen stundenlang anzugucken und sich dabei den Zuckerarsch abzufrieren. Dann war Pause und dann war ich.
Und ich wollte einen Text lesen, der damals gerade frisch fertig war, in dem ein drogensüchtiger Spinner nach einer verjunkten Nacht seine Freundin umbringt, weil er nicht mehr Herr seiner Triebhaftigkeit ist. Ein rasanter Text, der damit beginnt, wie diese beiden Menschen aufwachen, stark drogengeschädigt dahinvegetieren und plötzlich einer, nämlich er, voll ausrastet und der Freundin Dinge antut, die Bolzenschussgeräte mit Rindern in Schlachthöfen machen.
Unterwegs auf bundesdeutschen Autobahnen
Das beschriebene Szenario trug und trägt den Titel "Ich hab die Unschuld kotzen sehen", und das wurde dann auch der Titel meines damals noch unveröffentlichten Buches. Ich las also und alles begann idyllisch mit der Aufwachszene, dann wurde es ein bisschen brutal und dann völlig Blutrausch. Ich las den Text zu Ende und hob meinen Kopf vom Blatt - die Blätter von damals sind die Bücher von heute - und sah in offene Münder, in erschrocken eingefrorene Gesichter und musste feststellen, dass ich gut war. Dann standen hinten zwei Frauen auf, schimpften irgendwas, was sich anhörte wie Russisch, und verließen den Saal, auch vorne rechts tat sich eine Lücke auf und gleich fünf Menschen verabschiedeten sich gleichzeitig und suchten kopfschüttelnd den Ausgang. Ansonsten: Stille, gar Totenstille, ich hatte das Volk angerührt. Dann meldete sich eine ungewaschene Hippiefrau aus der ersten Reihe zu Wort, fand mich kacke und nannte mich "Machosau", wohl weil ich eine Frau und keinen Mann habe über die Klinge springen lassen. Auch ihre duschgelverfeindeten Nebensitzerinnen schwitzten in ihre Second- oder Thirdhand-Mode und stimmten einen Meckerchor an. Ich lächelte und antwortete ein wenig. Was genau ich zu den modeunbewussten Frauen sagte, weiß ich auch nicht mehr, aber es ließ auf jeden Fall das Meckern nicht verstummen. In diesen Meckerchor mischte sich ein weiterer Typ ein, der ganz hinten saß und rüberbrüllte, dass er Buchhändler sei und dass mein Zeug doch wohl "keine Sau mehr hinterm Ofen hervorholen" würde. Seit Tarantino, und wie se alle heißen, wär das doch Standardkram mit Tendenz zur Langeweile. Der Laden war in Aufruhr, ich lächelte still vergnügt, zufrieden mit den von mir provozierten Emotionen und Diskussionen, die sofort aufbrachen. Zwei ungefähr siebzig Jahre alte Frauen im robusten Zustand und mit experimentellen Fantasiehüten fanden mich "irgendwie klasse und mutig" und ich hätte ihnen gern dafür die Arschbacken massiert, war aber nicht nötig, die beiden waren mir aus freien Stücken mehr als gewogen. Der sogenannte Moderator, der wohl in seiner Freizeit auch Autor ist und ein Musical über Schalke 04 geschrieben hat, versuchte Ruhe reinzubringen und verbot den Hippiefrauen, die jetzt versuchten, mich mit bösen Blicken zu verdammen, weitere unkonstruktive Wortbeiträge. Ach und meine Freundin saß nur kopfschüttelnd da, einen Monat später verließ sie mich wegen eines Automechanikers, für sie war das nix, dieses Angefeindetwerden. Für mich war es ein künstlerisch wertvoller Abend. Nach mir las noch eine Frau, ebenfalls jenseits der Siebziggrenze, und sie laberte in einem sehr ruhigen Ton über ihre Kindheit in Russland, und irgendeinem Opa ist immer irgendwas hingefallen und die Kinder lachten. Ha, ha, ha und nochmals ha, alles super. Gelsenkirchen hat gerockt und ich habe mich nicht für die Entstellung eines Weltbildes entschuldigen müssen.
Auf meiner Lesetour 2007 waren wir auch in Bayern zu Gast, in einem kleinen Dorf, wo auf den ersten Blick jeder mit jedem verwandt schien. Wir, das waren mein Mietgitarrist und ich eben. Uns umgab
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