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Ich bin unschuldig

Ich bin unschuldig

Titel: Ich bin unschuldig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Durrant
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und konnten einfach nicht genug voneinander kriegen.
    DI Perivale hält mir das Foto hin, und zu meiner Überraschung muss ich der Versuchung widerstehen, es ihm aus der Hand zu reißen. Ich mache eine Bemerkung darüber, wie jung wir aussehen, doch er zieht ein seltsames Gesicht, als wäre da etwas, was ich nicht begreife.
    »Geht das nur mir so?«, fragt er.
    »Geht was nur Ihnen so?«
    Er schüttelt den Kopf, wie um einen Gedanken zu verscheuchen. »Tut mir leid. Nichts. Es ist nur …«
    Ich nehme das Foto und tue so, als würde ich es studieren, und dann stelle ich es zurück auf den Kaminsims. Es macht mich traurig, dieses Foto. Ich nehme mir Zeit und stelle es so hin, dass es symmetrisch zu einem Foto von Millie steht, auf dem sie Turnübungen macht.
    »Also«, sagt er, »vermutlich hören Sie wieder von uns.«
    »Ehrlich?«, sage ich. »Ach so, Opferunterstützung. Natürlich.«
    »Opferunterstützung?«
    »Als mir bei einem Ausflug nach Cineworld mal das Handy gestohlen wurde, hatten wir Besuch von einer Beamtin, die sich Sorgen um meinen Seelenzustand machte. Sie war sogar recht hartnäckig. Also bekommt man vermutlich auch Beratung angeboten, wenn man über eine Tote stolpert. Vielleicht täusche ich mich aber auch.«
    »Das Opfer des Verbrechens ist in diesem speziellen Fall vermutlich nicht in der perfekten Position, persönliche Beratung zu erhalten, wie persistent auch immer.« Es ist ein Rüffel, und wahrscheinlich hat er auch recht, aber ist ihm eigentlich klar, wie schrecklich es für einen ganz normalen Menschen ist, so unvermittelt über eine Tote zu stolpern?
    »Sehr viele Alliterationen in dem Satz«, sage ich.
    »Verschlusslaute. Ein ›p‹ ist ein Verschlusslaut.«
    Wir mustern einander, als wüsste keiner mehr so richtig, woran er bei dem anderen ist.
    »Wie auch immer, ich brauche keine Beratung. Ich bin stärker, als ich aussehe«, sage ich.
    Er steht noch am Kaminsims, und in diesem Augenblick scheint er eine Entscheidung zu treffen. Draußen auf der Straße höre ich Türen zuschlagen, das fröhliche Kreischen und Quieken kleiner Mädchen. Zu spät. Ich habe ihn nicht früh genug hinauskomplimentiert.
    »Ich bin nur verblüfft«, sagt er, »wie sehr Sie – oder jedenfalls die Frau auf dem Foto hier – dem Mädchen da draußen ähneln.«
    Mit dem Kinn zeigt er auf das Fenster, und ich weiß, dass er nicht meine Tochter meint, die schon die Stufen hochkommt.
    »Nur weil wir beide rotes Haar haben«, sage ich und werfe mein rotes Haar über die Schulter, um zu verbergen, wie sehr mich das alles aufwühlt. »Sie hat viel jünger ausgesehen als ich. Und … und war kleiner.«
    Er schließt den Reißverschluss seiner Jacke, zieht an dem speckigen Stoff am unteren Rand und schiebt die Hände in die Taschen. Als er das Zimmer durchquert, fällt mir auf, dass die Sohlen seiner Budapester Abdrücke im Flor des cremefarbenen Teppichs hinterlassen.
    An der Haustür sagt er etwas Seltsames: »›Und Taten unnatürlich erzeugen unnatürliche Zerrüttung.‹ William Shakespeare .«
    »Jetzt auch noch Dichtung. Sie haben ja wirklich viel drauf.«
    »Was ich damit sagen will: Seien Sie vorsichtig. Das ist alles. Passen Sie auf.«

Samstag
    Philip liegt neben mir, als ich wach werde. Er ist völlig weggetreten, still und schwer liegt er da und atmet gleichmäßig. Ein Stückchen Feder auf dem Kissen nahe seinem Mund flattert, wenn er ausatmet – das einzige Zeichen, dass er lebt. Ich habe noch nie jemanden gekannt, der so tief schläft und so abrupt wach wird wie Philip. Das ist vermutlich ein Talent und eine Gabe. Es war gegen zwei Uhr, als sein Handy letzte Nacht klingelte. Er schoss kerzengerade hoch und diskutierte zehn Minuten lang über Wandelobligationen. Berechnungen quollen aus seinem Mund wie Münzen aus einem Spielautomaten, und dann trennte er die Verbindung, legte sich hin und schlief schon wieder tief und fest, bevor man »breit gestreute Rendite« sagen konnte. Er bemerkte mich kaum, ich hielt die Augen geschlossen.
    Als ich ihn anrief, hatte er versprochen, sich nicht zu verspäten, nicht mit zum Abendessen ins Zuma zu gehen, doch am Ende habe ich ihn enttäuscht. Erschöpfung, die allumfassende bleierne Müdigkeit, überkam mich, an die ich mich von dem Tag, an dem meine Mutter beerdigt wurde, noch gut erinnern kann. Ich schlief schon, als er kam, ja, ich war immer wieder eingeschlafen. Zuerst, als ich Millie etwas vorlas. Wir lesen gerade Der Kampf um die Insel. Es gefällt uns

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