Ich bin unschuldig
mitbekommen. Kaffee und Kuchen sind verputzt. Draußen wird es dunkel. Wolken ballen sich zusammen, wirbeln, senken sich herab, als wären sie zu den Waffen gerufen worden oder nach Hause. Ich hebe meine Tasche vom Fußboden auf. Es ist die schicke Tasche, die Philip mir zu Weihnachten geschenkt hat, und ich wollte sie Clara nicht unter die Nase halten für den Fall, dass sie weiß, wie viel sie kostet. Jetzt lege ich sie unter dem Tisch auf meinen Schoß, erster Vorbote, dass wir bald aufbrechen. Doch Clara hat noch etwas auf dem Herzen.
»Wie ist das?«, fragt sie. »Eine Leiche. Wie sieht so was aus?«
Ich sehe sie neugierig an. »Das hat mich noch niemand gefragt. Alle waren unglaublich feinfühlig. Alle haben gefragt, wie es war, eine Leiche zu finden, nicht, wie sie tatsächlich ausgesehen hat. Vielleicht hat sie das eigentlich auch interessiert, und ich habe bloß auf dem Schlauch gestanden. Sie sah aus wie Fleisch, nicht wie ein Mensch, nur Fleisch. Übel zugerichtetes Fleisch in diesem Fall, voller blauer Flecken. Man sagt ja, dass die Seele den Körper verlässt, und es ist wahr. Jedenfalls glaube ich das.«
»War es gruselig?«
»Nein. Die Sterbenden sind gruselig. Weißt du, Zombies – Arme, die sich aus Gräbern recken –, aber die Toten finde ich nicht gruselig.«
»Das ist doch schon was.«
Auf der Straße verabschieden wir uns. Sie ist viel schmächtiger als ich, ihre Schultern kommen mir ganz zerbrechlich vor, als ich sie umarme. Ein alter Mann uriniert an einem Wettbüro, doch wir stehen vor einem Laden, der Schmuck in Form von hüpfenden Kaninchen und Lampenschirme mit Vögeln verkauft. Für einen kurzen Moment hat es aufgehört zu regnen – hoffentlich lange genug, um ein Taxi zu finden –, und ich fühle mich, als wäre mein »Albtraum«, wie Clara ihn genannt hat, vorbei, als könnte ich mich jetzt um meine Ehe kümmern und die Tote hinter mir lassen.
Doch er ist wieder da. Irgendwo im Hinterkopf habe ich mir schon gedacht, dass er wahrscheinlich wiederkommt, und fast bin ich sogar ein wenig erleichtert – das ist ja oft so bei Dingen, vor denen man sich fürchtet.
Ich hätte auf Clara hören sollen. Sie hat gesagt, ich soll die U-Bahn nehmen. Aber wenn man einmal vom öffentlichen Nahverkehr abgekommen ist, ist es schwer, sich wieder daran zu gewöhnen. Das Taxi brauchte Ewigkeiten. Der Taxifahrer nahm eine irrwitzige Route, den Westway hinauf und durch Earls Court hinunter. Steve, der sicher längst bei seiner Frau zu Hause in Wallington war, hätte ihn bestimmt gefragt, wozu. London funkelte verschwommen durch die Fenster. Es regnete in Böen, ja, in Wellen, Reifen zischten und spritzten, die Scheibenwischer schnarrten. Mein Optimismus versickerte zusammen mit dem Regen. Der Fulham Broadway, wo ich meine erste Wohnung hatte, wirkte düster und so hässlich, wie Stadt nur sein kann – Gemüse vom Markt, das in Rinnsteinen verrottet, Pendler, die in feuchten Anzügen aus der U-Bahn hasten. Unter der Battersea Bridge der aufgewühlte Fluss, schlammfarben und pockennarbig. Kurz bevor wir zu Hause waren, auf der Trinity Road, erstreckte sich der Common öde und grau. Während das Taxameter tickte und das Taxi an dem Engpass hinter dem Gefängnis hielt, konnte ich über die Tennisplätze schauen, wo kleine Gestalten sich unter Bäumen drängten: eine nachmittägliche Trainingsstunde, die im wahrsten Sinne des Wortes ins Wasser gefallen war. Dann hatten sie die Polizeiabsperrung wohl entfernt.
Er saß in seinem Wagen und stieg aus, sobald das Taxi davongefahren war. Ich kramte nach meinen Schlüsseln – warum finde ich die nie? –, und er näherte sich von hinten und sagte höflich: »Die brauchen Sie erst mal nicht, wenn das in Ordnung ist.« Ich tat, als würde ich mich erschrecken, obwohl ich das Auto gesehen hatte, sobald das Taxi vorgefahren war, und mir einen Moment genommen hatte, um das Trinkgeld auszurechnen und meine Nerven zu beruhigen.
»Ich habe mit Ihrer Haushaltshilfe gesprochen, und sie hat gesagt, Sie würden in der nächsten Stunde oder so nicht gebraucht.«
»Marta, meinen Sie.«
»Wenn es Ihnen nichts ausmacht, möchten wir Sie bitten, uns zum Revier zu begleiten. Es ist einfacher dort. Damit wir Ihnen noch ein paar Fragen stellen können, richtig.«
»Ich habe Ihnen alles gesagt. Mehr weiß ich nicht.«
»Ich weiß, dass Ihnen das unnötig vorkommt. Ich weiß, dass Sie viel zu tun haben, aber Sie verstehen sicher, dass wir allen Spuren nachgehen
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