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Ich bin unschuldig

Ich bin unschuldig

Titel: Ich bin unschuldig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Durrant
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Streit mit Pete bei mir vor der Tür stand. Sie saß in meiner Küche und schluchzte so heftig, dass sie davon Schluckauf bekam, wie ein Baby. Am Morgen weckte ich sie und kochte ihr einen Kaffee, und sie trottete zur U-Bahn und schwor, am Abend wiederzukommen, doch als ich sie Wochen später das nächste Mal sah, zog Pete gerade bei ihr ein, und alles war gut. Eine Freundschaft kann sich so unmerklich verändern, dass man es manchmal gar nicht mitkriegt, bis solche Augenblicke kommen und sie neu definieren. Sobald Pete auf der Bildfläche erschien, war mir klar, dass Clara und ich immer füreinander »da« sein würden, wenn wir einander brauchten – zum »Durchlabern«, wie wir es als Teenager genannt hatten –, aber nicht jeden Tag da, nicht wie früher.
    »Was ist mit Ostern?«, fragt Clara. »Es ist dieses Jahr sehr früh. Geht ihr wieder Skifahren oder … war das Jamaika letzten April?«
    »Nein. Philip hat seine Obsession für exotische Urlaube aufgegeben, Gott sei Dank. Arbeit.« Ich denke an das Cottage in Peasenhall, das Philip von seinem ersten Bonus gekauft hat, die gemütliche Küche, die Schlafzimmer mit ihren schiefen Fußböden, ein Haus, solide und real genug, dass eine richtige Familie in seinen Mauern leben kann, doch es steht leer und wartet auf uns, wie ein Hund, der auf der Standspur zurückgelassen wurde. »Wir könnten doch alle über Ostern in das Cottage nach Suffolk, oder? Warum fahren wir nicht alle zusammen?«
    »Suffolk. Ach, ich weiß nicht …«
    »Wir könnten wandern gehen, Ausflüge ans Meer machen. Wir sollten das Haus mit Leben füllen, mit Lachen.«
    Clara lächelt. Ein unverbindliches Lächeln.
    Ich bemühe mich, nicht enttäuscht zu sein. Ich bin ein bisschen zu abhängig von Clara. Ich weiß das. »Wie geht’s Pete?«, frage ich ruhig.
    »Ganz gut.« Sie deutet ein Achselzucken an. Pete ist Künstler. Er macht Installationen, aber hauptsächlich kocht er und produziert Riesenmengen Abwasch. Er und Philip waren mal Freunde. Wir haben viel zusammen unternommen – wir waren in Cornwall zum Surfen, sind in Surrey Fahrrad gefahren, haben uns in Soho betrunken –, doch die Dinge haben sich verändert. Unsere Leben verlaufen nicht mehr synchron. Und jetzt, also, jetzt habe ich das Gefühl, ich muss ein wenig lügen. Ich gehe über den Skiurlaub hinweg, die Reise nach Jamaika (eigentlich waren wir ja in Nevis), Dinge, die im oberen Brustkorb zu Wellen der Anspannung führen. Kürzlich beim Abendessen beim Chinesen bei ihnen um die Ecke schoss sich Pete auf Academy Schools ein und dass sie »bloß ein Mittel sind, die staatliche Schulbildung zu privatisieren und sie örtlichen Geschäftemachern zu überlassen«. Millies schicke Privatschule, auf der Philip bestanden hat, mit ihrer braven Schuluniform, ihrem Swimmingpool, ihrer Flotte flinker blauer Busse, tanzte über unseren Köpfen wie eine Phantasiesequenz in einem Zeichentrickfilm von Walt Disney. Ich wich Claras Blick aus. Ich weiß, was die beiden denken: dass Philip und ich den Kontakt zu dem verloren haben, was wirklich zählt. Und sie haben recht, ich weiß. Ich bin schwach und leicht zu beeinflussen. Ich sollte Philip öfter Paroli bieten, aber vermutlich habe ich Angst, ihn zu verdrießen.
    Draußen regnet es; ein Windstoß schlägt gegen die Fenster und lässt sie klappern. Das Café hat deckenhohe Türen, die im Sommer weit offen stehen. Jetzt sind sie geschlossen, und die Lichter sind an – trendige Lampen, die wie nackte Glühbirnen von der Decke hängen. Jede goldene Kugel wirft einen zittrigen Schein auf einen Holztisch. Die Einrichtung ist schlicht, aber gemütlich. »Richtig daubes Wetter«, sage ich als Referenz auf unsere Oberstufen-Pflichtlektüre, Virginia Woolfs Zum Leuchtturm .
    Wir gackern vor Lachen, und als wir uns wieder gefangen haben, fragt Clara, wie es mir inzwischen in Bezug auf meine Mutter geht.
    Ich schaue aus dem Fenster. Zwei Frauen gehen vorbei, beugen sich tief unter ihre Schirme, als hätten sie vergessen, dass sie sie auch höher halten könnten, wenn sie wollten. Clara fragt nicht oft. Sie weiß, dass ich lieber nicht darüber rede. Nicht dass ich vor dem Thema zurückschrecke; ich will bloß nicht eine von denen sein, die wegen ihrer schweren Kindheit für den Rest ihres Lebens mies drauf sind. Ich trinke einen Schluck Wasser. Obwohl ich mir solche Mühe gebe, steigt der trockene Schmerz auf, die hässliche Düsternis. Ich schlucke schwer. »Gut«, sage ich so gleichgültig wie

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