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Ich bin unschuldig

Ich bin unschuldig

Titel: Ich bin unschuldig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Durrant
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einmal um sich selbst gedreht, ohne dass man es mitbekommen hat. Für diese wenigen ersten Momente, wenn man die Stufen runtergeht oder die Rolltreppe verlässt, ist der Tag eine Überraschung – selbst wenn man ihn nur durch die Scheiben des Southside Shopping Centre betrachtet. Also, dieses ungläubige Staunen, genau so fühlt sich meine Freiheit an. Clapham Junction ist ein riesengroßes pulsierendes Knäuel an Aktivität. Die tief stehende Sonne spiegelt sich funkelnd in den Schaufenstern. Markisen schaukeln lustig wie eine Wimpelkette. Büschel rosafarbener Kirschblüten hängen über Gartenmauern. Auf der anderen Seite des Common, wo das Licht schon diesiger wird, zeigen die Bäume hellgrüne Spitzen gegen den FC -Chelsea-blauen Himmel.
    In den Tiefen meiner Tasche habe ich ein Haargummi von Millie gefunden und meine Haare zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Meine Lippen sind trocken und rissig, ich lecke sie andauernd, was es nur schlimmer macht. Meine Augen, eingefallen und aufgedunsen, tun weh, wenn ich von links nach rechts schaue. Es ist viel los, unzählige Menschen mit Einkaufstüten, ein Junge in Schuluniform neben mir isst Brathähnchen aus einer Pappschachtel, aber niemand sieht mich an. Keine leichten Rippenstöße oder Blicke von der Seite. Eine Nacht in einer Polizeizelle: das Geheimnis der Anonymität. Ich sollte Kate Winslet Bescheid sagen.
    Ich sehne mich danach, Millie zu sehen und mit Philip zu reden. Ich sollte warten, bis ich zu Hause bin, aber das kann ich nicht. Angesichts der Ungeheuerlichkeit dessen, was mir gerade widerfahren ist, sind meine Sorgen um unsere Ehe wie weggefegt. Ich muss seine Stimme hören, selbst wenn ich im Augenblick nicht offen sprechen kann. Ich sitze in einem Bus! Das kann ich ihm sagen. Und sobald die Schule zu Ende ist, rufe ich Clara an. Ich krame in meiner Tasche herum. Kein Lämpchen blitzt auf; vielleicht ist der Akku leer. Ich durchsuche die Taschen, taste das Futter ab. Nacheinander nehme ich die schwereren Sachen raus, und dann habe ich Gewissheit: Das Handy ist nicht da.
    Mein erster Gedanke ist, dass ich zum Polizeirevier zurückmuss – ich stehe schon halb auf, um aus dem Bus auszusteigen –, doch mein zweiter Gedanke ist, dass ich das nicht fertigbringe. Es ist genau das Gegenteil von dem, was ich tun möchte. Ich will so weit wie möglich fort von Perivale. Ich muss vom Festnetzanschluss anrufen, sobald ich zu Hause bin. Vielleicht können sie es mir mit der Post schicken.
    Es hat meiner Erleichterung einen kleinen Dämpfer versetzt, aber nur kurz. Unmittelbar hinter dem Ende meiner Straße ist eine Haltestelle, dort steige ich aus. Die Magnolie in dem Garten an der Ecke scheint über Nacht erblüht zu sein, es sei denn, es ist mir vorher nicht aufgefallen: ein Spektakel draller magentafarbener Blütenkelche, angeberische Blüten, wie es sie mitten im Sommer geben müsste, fast unanständig protzig. Ich bleibe stehen, um die Nase in eine Blüte zu stecken. Honig und Zitrone mit einem leichten Hauch von Arznei: Hustensaft! All die Jahre wohne ich schon hier und habe noch nie daran geschnuppert. Normalerweise gehe ich nicht mal hier hoch.
    Dann biege ich um die Ecke. Einen Sekundenbruchteil habe ich Zeit, mich umzudrehen und wegzulaufen, doch der Bruchteil vervielfacht sich, zerbirst in eine Million Zähler, eine Trillion Nenner, und dann ist es zu spät.
    Eine Frau in einem beigefarbenen Trenchcoat entdeckt mich als Erste. Sie ist wohl ein Stück die Straße raufgegangen, um eine zu rauchen. Als sie auf mich zuläuft, sehe ich, dass sie die brennende Kippe in einem Bogen über den Kopf mitten auf die Straße wirft. »Gaby! Gaby! Wie war es im Gefängnis, Gaby? Gaby!«
    Innerhalb von Sekunden steht sie vor mir. Ihre Haut ist gelblich grau, voller senkrechter Falten, von der Nase zu den Mundwinkeln, von den Mundwinkeln zum Kinn – wie eine Bauchrednerpuppe. Die übrige Meute folgt ihr auf dem Fuß. Kameras surren. Jemand versucht, ein Mikrofon mit Windschutz über die Köpfe zu schieben. Es ist zu spät, um zu lächeln, mich umzuwenden und über die Schulter zu schauen. Hier herrscht der frontale, völlig übermüdete Miese-Frisur-Horror.
    Noch mehr Rufe. Männerstimmen, die so tun, als würden sie mich kennen. »Gaby. Gaby. Hierher, Gaby. Irgendwelche Kommentare, Gabs?« Ich schließe die Augen. »Der Stierlauf« in Spanien, den ich vor Jahren für Panorama gefilmt habe. Das Dröhnen der Hufe – als stünde man unter einer Brücke, über die

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