Ich bin unschuldig
warten, sie lauern die ganze Zeit darauf, dass so etwas wie das hier passiert, um einen aufs Glatteis zu führen und einen zu schnappen und einem zu zeigen, dass das Leben, von dem man dachte, es unterliege der eigenen Kontrolle, eigentlich die Zierde war. Dass das eigene Leben gar nichts ist.
Eine einzige Entdeckung hat all das in Bewegung gesetzt. Wenn ich nicht laufen gegangen wäre, wenn ich die Tote nicht gefunden hätte, wäre ich dann hier? Wieder setzt Lärm ein, ein tiefes Stöhnen, ein schmerzerfülltes Brüllen. Und nach ein paar Momenten begreife ich, dass es aus meiner Kehle kommt.
Das Frühstück besteht aus einem Sandwich mit Speck und Ei – in einer verschweißten dreieckigen Schachtel – und einer Tüte Krabbencocktail-Chips. Ich esse tatsächlich beides. Auf dem Tablett steht Tee in einem Pappbecher, der runde Teebeutel an der Seite mit einem baumelnden Stückchen Metall befestigt – ein Teebeutel, wie man sie am Getränkewagen im Zug bekommt. Er schmeckt streng, aber so schmeckt mein Mund auch.
Der Polizist, der die Tür zu meiner Zelle mit dem Ellbogen aufdrückt und es rückwärts reinbringt, ist der junge Bursche vom Vortag. Er hat blasse Haut, die an frische Erdbeeren mit Sahne erinnert; man kann sich gar nicht vorstellen, dass er sich schon rasiert.
»Oh, toll! Frühstück im Bett!«, sage ich. »Sie verwöhnen mich.«
Er wird rot. »Tut mir leid. Viel ist es nicht.«
Die Mühe, die ich mir gebe, ein fröhliches Gesicht zu machen, wo ich mich am liebsten zusammenrollen würde wie ein Fötus, erinnert mich an den Morgen im Krankenhaus nach Millies Geburt, wo ich die Gratulanten anlächelte und mich bei ihnen für ihre Muffins, Teddybären und Blumen bedankte, während ich doch die ganze Zeit schreckliche Schmerzen von den Stichen hatte und mir Sorgen machte, ob ich je wieder pinkeln konnte.
Ich sage etwas darüber zu dem netten Constable.
Er wirkt nervös – zu viele gynäkologische Einzelheiten. Ich bin nicht überzeugt, dass er überhaupt die Tür zuschließt. Wenn mir der Sinn danach stünde, könnte ich vielleicht sogar weglaufen.
Caroline Fletcher kommt später als angekündigt. Als sie endlich da ist, werde ich in ein anderes Vernehmungszimmer zu ihr gebracht – ein anderes als am Vortag, nicht ganz so frisch gestrichen.
Sie trägt denselben schwarzen Hosenanzug mit einer neuen Bluse. Die gestern war von einem kräftigen Staubrosa und aus Seide oder Polyester, die hier ist aus Baumwollstoff mit dünnen blau-weißen Streifen. Dieselben Schuhe, schwarze Slipper, aber keine Strumpfhose oder Kniestrümpfe. Ihre Haare sind nicht ganz so ordentlich, ein wenig fettig, der Scheitel sitzt schief. Wenn man die Nacht im Gefängnis verbracht hat, wenn man nicht weiß, ob man je wieder rauskommt, dann sagen einem diese winzigen Details alles. Die Baumwollbluse und die nackten Füße deuten an, dass sich der Luftdruck verändert hat; das Barometer ist gestiegen – heute ist es wärmer da draußen, sogar sonnig. Vielleicht kommt der Frühling durch. Und Fletchers unordentliche Haare, die Unpünktlichkeit? Sie hatte einen hektischen Vormittag. Ich weiß nicht. Was? Rasche Runde durch den Supermarkt? Ein anderer Job, ein anderer Mandant in Not? Die Welt dreht sich ohne mich weiter. Sie merkt gar nicht, dass eine fehlt.
Es ist Tag zwei. Heute war ich wieder nicht in der Arbeit. Gestern konnte ich es kaum glauben. Ich sah zu, wie die Minuten verstrichen. Ich dachte immer wieder: Jetzt flirtet Stan mit dem ganzen Flashmob, der ja eigentlich meine Idee war. Jetzt ist Zeit für Indias Angesagte Apps … Donnerstag, also folgt Im Garten mit Roger Peedles … Und wer ist heute in der Küche? … Keine Ahnung. Als es endlich halb eins wird, weine ich beinahe vor Erleichterung.
Heute, schon zehn vor elf, mitten in Gok Wans Frühlingstrends , und ich habe so gut wie gar nicht daran gedacht.
Sie trägt auch eine Brille. Ich glaube, gestern hatte sie keine an. Himmel, hatte sie nicht mal Zeit, die Kontaktlinsen einzusetzen?
»Also, es gibt keine Zeugen. Das habe ich von Perivale persönlich. Er macht keine Sperenzchen mehr. Ich finde es schrecklich, wenn die Polizei ihre Informationen nur zögerlich preisgibt. Das ist doch nichts als Taktik, verdammt. Geben die großen Zampanos, bloß um sich aufzuspielen.«
Ich merke, dass ich sie mag. Das Fluchen ist mir sympathisch.
»Und die Videoüberwachung hat auch nichts ergeben. Nada. Niente. Am Fitzhugh Grove sind keine Überwachungskameras, und
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