Ich bin unschuldig
ein Zug rattert –, die Halsmuskeln der Tiere, die fliegenden Schweißtropfen. Menschen, die drängeln und schubsen. Absperrgitter.
Wenn ich mich mittendurch schiebe, gelange ich vielleicht auf den leeren Bürgersteig hinter ihnen, doch der Pulk bewegt sich mit mir, wie Ameisen, die einen Krümel transportieren. Bis auf die Frau in dem Trenchcoat sind es nur Männer in Schwarz – schwarze Jacken, schwarze Daunenjacken, eine mit Pelz verbrämte Kapuze. Ein Rattenkönig. Verknotete Schwänze. Einige versuchen, um die parkenden Autos herum an mich heranzukommen, hinter ihnen durch, über sie drüber. Ein Mikro kratzt über Metall. Eine Tasche schlägt an einen Kofferraum.
Ich sollte lächeln, ein Lächeln andeuten, wenn auch ein trauriges, gedemütigt durch meine Tortur, erleichtert, sie überstanden zu haben, doch meine Gesichtsmuskeln sind wie erstarrt. Ich versuche nur durchzukommen, um ins Haus zu gelangen. Wie weit noch? Knapp fünfzig Meter. Wenn ich das schaffe, ohne zusammenzubrechen … Ich darf nicht einknicken oder weinen. Was ist hier vonnöten? Würde, Anmut. Schwermütig, aber tapfer. Komm schon. Ordnung. Kontrolle. Der Lebenszyklus des Frosches. Die Ursachen des Zweiten Weltkriegs. Bis hierhin bin ich schon gekommen. Wo ist meine Würde? Wo ist meine Anmut?
In meiner Kehle bildet sich ein beträchtlicher Klumpen. Das Schlucken fällt mir schwer. Ich habe meinen Mund nicht mehr unter Kontrolle. Meine Lippen zittern und verziehen sich. Ich möchte sie anbrüllen, sie sollen mich gefälligst vorbeilassen, aber ich muss ruhig bleiben. Ich muss still bleiben.
Sie sind wie eine Mauer. Ich komme nicht hindurch. Die ganzen Gesichter direkt vor mir. Niemand ist auf meiner Seite. Panik steigt auf. Ich bin wieder in der Zelle. Nuklei. Zytoplasma. Äußere Kiemen. Lunge. Vor meinem inneren Auge blitzen Bilder auf: Millie, Philip, Clara, Robin, die Menschen, die ich liebe. Das Haus – das Tor, die Haustür – ist nur noch wenige Meter weg. Stan, der dämlich grinst. Perivale. Ich komme nicht durch. Ich kann mich nicht rühren. Ich drehe und winde mich. Ein Schaf auf Robins Bauernhof, das ins Räudebad getunkt werden soll. Eine Hexe, die ins Hexenbad getunkt werden soll.
»Gaby, Gaby, sind Sie frei? Gaby?«
Sie steigt auf, die Kraft, von ganz tief innen drin. Sie steigt auf, verändert die Farbe, wird rot und durchströmt zuckend meine Adern. »Aus dem Weg!«, höre ich mich mit einer hässlichen Stimme schreien, die nicht die meine ist. Ich schiebe mich durch sie hindurch. Mein Fuß trifft auf ein Schienbein. »Lassen Sie mich in Ruhe, alle miteinander. Gehen Sie weg.«
Drinnen lehne ich mich an die Tür, schließe die Augen und warte. Es ist so kalt, die Kälte ist wie ein Geruch, sie lässt einen mitten in der Bewegung innehalten. Ein verlassenes Haus, unbewohnt. Wie lange war ich weg? Ein Jahr? Einen Monat? Nein, genau sechsunddreißig Stunden und die (überraschend gemächliche) Busfahrt nach Hause. Ich schlage die Augen auf, ich kann sie nicht länger geschlossen halten. Der Lärm draußen hat sich gelegt. Ein Bild von Millie hängt schief an der Wand. Auf der untersten Treppenstufe ein schwacher Fußabdruck.
Ich finde mich in der Küche wieder – vermutlich reiner Instinkt, das Zentrum des Hauses. Der Boden hier drin ist schmuddelig, nicht richtig dreckig, aber ein wenig verschmutzt, als wäre Robin mit ihrem Hund zu Besuch gewesen. Vielleicht hat die Polizei einen Hund mitgebracht. Schachteln mit Frühstücksflocken stehen seltsam unordentlich auf der Arbeitsplatte, die Frosties-Schachtel ist oben offen. Wie von kräftigen Fingern aufgefummelt. Haben sie etwa die Frosties durchsucht? In der Hoffnung, darin in einer kleinen Plastiktüte das Tatwerkzeug zu finden, wie ein Plastikspielzeug? Vielleicht hatte auch jemand Hunger. Ich stelle mir vor, wie Perivale in die Küche huscht und sich rasch eine Handvoll nimmt.
Ich suche nach seinen Spuren. Keine schmutzigen Fingerabdrücke. Er hat sich entweder die Hände gewaschen oder Handschuhe getragen. Im Wohnzimmer sind die Sofakissen anders arrangiert – als nach oben zeigende Dreiecke und nicht als Rechtecke. Eines der silber gerahmten Fotos auf dem Klavier – eine Aufnahme von uns dreien – fehlt. Die Tastenklappe ist zu. Ein schiefer Ton in einem Raum voller schiefer Töne.
Geh bloß nicht zu nah ans Fenster. Zu spät. Rufe. Aufruhr. Immer noch da draußen. Ein Krähenschwarm. Ein Pulk Aasgeier. Millies Kollektiva. Ich schließe mit Philips
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