Ich bin verboten
Türschwelle, Hannahs Arme. Nach den Freuden des Wiedersehens, nach Tee und Kuchen, fragte Mila: »Darf ich jetzt?«
Hannah lächelte. »Geh nur, Kind. Geh.«
Die schwere Hoftür schwang auf. Mila schaute zu beiden Seiten die Straße entlang. Sandsteinsimse, schmiedeeiserne Schnörkel, abblätternde Holzfensterläden – nach der faden Funktionalität von Williamsburg sah und schätzte sie deren Schönheit umso mehr. Sie streckte die Hand nach den alten Mauern aus, liebkoste sie. Aus dem Laden des Geigenbauers schwang ein Ton herüber. Gesprächsfetzen von Passanten; die so fürchterlich vermissten Verschleifungen, die weichen Vokale nach den l’s und z’s und die samtenen t’s, der gleichmäßige Tonfall, der den Takt für das Leben der Menschen vorgab, die nicht gegangen waren.
Im Jardin du Luxembourg lief sie durch die Kastanienallee zum Spielplatz ihrer Kindheit und durchstreifte die schattigen Heckenbuchten ihrer Teenagerjahre. Hinter jeder Kurve rechnete sie fast damit, Atara zu begegnen. Beste Freundinnen, Schwestern fürs Leben.
Als Hannah und Zalman Ataras Nachricht fanden, hatte Zalman ein Detektivbüro mit der Suche nach seiner Tochter beauftragt, doch sie blieb unauffindbar. Mila hatte alles mitbekommen: die Sorge und Verzweiflung von Zalman und Hannah, die Fassungslosigkeit der jüngeren Geschwister angesichts des Schmerzes ihrer Eltern. Mila hatte geschwiegen, als Zalman verfügte, dass der Name Atara in seinem Haus nicht mehr ausgesprochen werden dürfe, doch trotz Zalmans Befehl flüsterte Hannah ihr bei jedem Pessachbesuch dieselbe Frage ins Ohr: »Hast du etwas gehört?«
Mila dachte an die Postkarten, die Atara an Hannah geschrieben hatte. Es waren immer die gleichen vier Worte: Mir geht es gut. Einmal: Ma chère Maman, mach dir bitte keine Sorgen um mich.
Mila hatte Verständnis dafür, dass Atara nicht versuchte, mit ihr Kontakt aufzunehmen. Wie hätte sie Hannah und Zalman als Komplizin ihrer fortgelaufenen Tochter noch gegenübertreten können?
Mila blieb vor der Fontaine de Médicis stehen. Auf der dunklen Wasseroberfläche spiegelte sich das Laub der hohen, ungestutzten Platanen. Sie warf einen kurzen Blick auf die verbotenen Bilder, auf das Marmorgewirr aus Gliedmaßen und Sinnlichkeit, auf die Nymphe, die sich im Schoß ihres Liebhabers hingab, und schaute schnell wieder weg. Diesmal verließ sie den Park an der Rue Servandoni, machte einen Schlenker über den Place Saint-Sulpice zur Rue de Seine und lief dann hinab zur Pont des Arts.
Sie beugte sich übers Brückengeländer. Der Himmel kräuselte sich im Fluss. Voller Neid schaute Mila der Strömung nach: Der Fluss konnte weit aus der Stadt hinausfließen und blieb gleichzeitig doch träge in Paris. Entlang der Ufer zogen sich Fensterfronten und Mansardendächer, unterbrochen von Kuppeln und Turmspitzen. Am liebsten hätte sie sich über die Dächer hinweggeschwungen, sich über alle Brücken gebeugt, die bauchigen Säulen umarmt. Die Glocken schlugen die Viertelstunde, die halbe Stunde.
Als ihr Schatten länger wurde, machte Mila sich auf den Heimweg. Sie wollte sich in den großen Pessachputz stürzen, kein Krumen, kein Körnchen gesäuerten Brotes durfte übersehen werden. Das Gewusel in Hannahs ständig größer werdender Familie steigerte Milas Eifer nur noch mehr. Sie war völlig vernarrt in Hannahs jüngstes Baby, wickelte und liebkoste es.
Endlich kam das Pessachfest, und das Putzen nahm ein Ende.
Am Sederabend genoss Mila Zalmans lebhafte Nacherzählung der Flucht aus Ägypten. Mit einem Beutel voller ungesäuerter Brote über den Schultern lief Zalman durchs Esszimmer. »So sind unsere Ahnen aus dem Land geflohen, in dem sie Sklaven waren …« Sie genoss es, dass Zalman sich immer noch an sie wandte, wenn es darum ging, den Propheten Elias willkommen zu heißen. Mit angehaltenem Atem ging sie in den dunklen Flur und öffnete die Haustür.
»Gesegnet sei, der da kommt!«, dröhnte Zalman aus dem Esszimmer.
Sie versuchte, im dunklen, leeren Treppenhaus die Silhouette des Elias auszumachen.
Während des Pessachfests gingen sie morgens alle gemeinsam in die Synagoge, doch an den Nachmittagen begleitete Mila die Kinder in den Jardin du Luxembourg. Der Hauch von Frühling, der helle Himmel, die blühenden Blumen in den Pflanzenkübeln – Mila schob den Kinderwagen und behielt die Kleinen im Auge. Das Kindergeschrei und Geplapper ließen sie an ihre leere Wohnung in Williamsburg denken, an die Fenster und Tische, die
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