Ich bin verboten
flackernde Flamme. In der Flamme sah Mila den Zug, der in der Ferne verschwand, und sie sah sich selbst, wie sie die Arme ausstreckte, nach hier, nach dort, nach ihrer Mutter und nach dem Vater, sie streckte und streckte …
Mama? Sie streckte die Hand einem Schatten an der Decke entgegen, während ihre andere Hand noch immer krampfhaft das Holzgitter umklammerte. Die Knöchel wurden schon weiß. Die Knie gaben unter ihr nach, und sie verlor das Gleichgewicht. Genau in dem Moment, als es in der Synagoge still wurde, weil der Rebbe zu singen begann, rief Mila laut »Mama? Rebbe?« und sank zu Boden.
Josef hörte den Schrei, und er hörte die Unruhe auf der Frauengalerie.
»Schon gut, sie kommt wieder zu sich«, sagte jemand, als er die Tür zum Frauentreppenhaus aufriss.
Mila erschien, auf zwei Frauen gestützt, am oberen Ende der Treppe.
Josef half ihr aus der Synagoge.
Unten im Saal begannen sie wieder zu tanzen, während die Frauen auf der Galerie bereits über die junge Pariser Braut tuschelten: Eine Frau, die in der Öffentlichkeit, noch dazu in Gegenwart des Rebbe, ihre Stimme erhob? Von zarter Gesundheit, Gott bewahre …
Als er die Daunendecke um Mila festgesteckt hatte, fragte Josef, was passiert sei.
»Natürlich, er war es«, sagte Mila, »deswegen waren wir dort, wir wollten den Rebbe tanzen sehen.«
»Du hast den Rebbe schon einmal gesehen?«
»Mein Vater hat mich die ganze Predigt lang hochgehalten, damit ich das Gesicht des Rebbe sehen konnte. Wie hätte ich seine glühenden Augen jemals vergessen können, als er die Leute drohend, flehend und weinend vor den Zionisten warnte. Und dann habe ich ihn wiedergesehen … Josef, was erzählen sich die Leute hier über die Flucht des Rebbe?«
»Dass es ein Wunder war. Es wird jedes Jahr am 21. Kislew gefeiert, dem Jahrestag seiner Ankunft in der Schweiz. Wir gehen alle hin. Die ganze Gemeinde geht hin.«
»Hat nie jemand gefragt, wie der Rebbe in den Prominentenzug gekommen ist?«
»Der Mann, der den Transport aushandelte, hatte einen Traum: Du musst den Rebbe von Szatmár mitnehmen, sonst wird deine Mission scheitern.«
»Einen Traum? Ist das der Grund, warum der Rebbe mit dem Prominentenzug in die Schweiz fuhr?«
»In Williamsburg kennt jeder die Geschichte.«
»Ja?« Milas Finger trommelten auf der Daunendecke. »Und niemand hat sich gefragt, warum dieser eine Zug bis in die Schweiz fuhr und nicht in Auschwitz endete? Schon gut, Josef, ich habe kein Problem damit. Ich bin froh, dass der Rebbe entkommen konnte … Aber genau so ist es gewesen, oder? Die offenen Viehwaggons und meine rennende Mutter, die ›Rebbe!‹ schrie.«
»Du darfst nicht daran denken … oder wenn du daran denkst, musst du auch an uns denken, an unsere Zukunft und an unsere zukünftigen Kinder.«
»Das werde ich. Ja, das werde ich. Jetzt geh zurück in die Schul. Du musst. Was werden die Leute sagen, wenn du noch eine Runde verpasst, Josef? Bitte bring mir meinen Tanach. Heute Abend lesen wir die Passage über Moses, der nicht hinüber ins Gelobte Land geht, ja?« Wieder trommelte sie auf die Daunendecke. »Jetzt geh. Mir fehlt nichts.«
Mila schlug ihre Bibel auf. Gemäß der Tradition an Simchat Thora las sie den letzten Abschnitt und dann den ersten Abschnitt der Thora.
Du sollst nicht hinübergehen … Also starb Mose … Und die Kinder Israel beweinten Mose … Und es stand hinfort kein Prophet in Israel auf wie Mose … zu aller dieser mächtigen Hand und den schrecklichen Taten, die Mose tat vor den Augen des ganzen Israels.
Am Anfang …
*
Mila zählte in ihrem Buch der Tage: Blut: 1, 2 … 5. Rein: 1, 2, 3 … 7.
Sie legte sich die silberblaue Stola um.
Kam am Ende des Monats wieder Blut, hätte sie sich am liebsten an Josef geschmiegt und sich von ihm trösten lassen, aber sie wusste, dass sich in diesem Verlangen ihr böses Begehren offenbarte. Warum sonst sehnte sie sich ausgerechnet an den Tagen des Monats so sehr nach Josefs Umarmungen, an denen sie sich nicht berühren durften? Er durfte nicht einmal eine Fluse von ihrem Kleid blasen, damit es nicht zur Sünde führe …
Jeden Monat ging Mila in die Mikwe, doch ihr Bauch wollte nicht anschwellen.
Es schickte sich nicht für eine junge Frau aus Williamsburg, nicht schwanger zu sein.
Nicht schwanger, kinderlos – in Williamsburg gab es für solche Frauen fast nichts zu tun.
Vom Fenster der stickigen Wohnung aus sah Mila zu den Müttern hinab, die Kinderwägen schoben und ganze Horden sich an
Weitere Kostenlose Bücher