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Ich bin verboten

Ich bin verboten

Titel: Ich bin verboten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anouk Markovits
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Strauchnesselaugen ausstrecken. Und er sah, wie die Hände hinuntersanken. Leer.
    Am nächsten Tag stellte Mila ihr erstes Päckchen für Florina zusammen: Dosenfrüchte, Kaffee, Zucker, eine knitterfreie Kittelschürze und einen Wollpullover. Als sie noch einen zusammengefalteten blumigen Seidenstoff dazupackte, fragte Josef: »Wozu soll der gut sein?«
    »Für ein schönes Kleid«, sagte Mila.
    »Aber Florina trägt nur Schwarz.«
    »Auch jetzt trägt sie immer noch Schwarz?«
    Josef seufzte tief auf.
    Entschlossen legte Mila den Blumenstoff ins Paket.
    Als sie in der Post in einer Schlange stand, um das Paket nach Rumänien aufzugeben, schrieb Mila ihren Namen und die neue Adresse in Williamsburg auf eine Postkarte. Da sie Ataras Adresse nicht kannte, nahm sie die Karte mit nach Hause und steckte sie zwischen die Seiten ihres Buchs der Tage.
    *
    Zum Fest der Gesetzesfreude, Simchat Thora, besuchten Mila und Josef den Gottesdienst in der Hauptsynagoge. Mila war noch immer wie gebannt von dieser Welt, in der alle wie sie und Josef gekleidet waren. Weil Feiertag war, trugen die Frauen weiße Kopftücher und die Männer Streimel. Menschen, die Mila noch nie gesehen hatte, grüßten sie wie alte Bekannte; manche hatten ihre Eltern gekannt, einige erinnerten sich sogar an Mila als Kind. In der Gemeinschaft mit anderen spürten die beiden Frischvermählten noch stärker, warum sie lebten: Sinn und Zweck ihres Daseins war, dem Volk Israel für ihre ermordeten Eltern und Geschwister neue Namen zu machen.
    Als sie vor der Synagoge standen, deutete Josef auf eine Seitentür. »Der Eingang für die Frauen. Sei nicht schüchtern. Drängel dich bis in die erste Reihe vor, sonst siehst du nichts.«
    Eine Woge weißer Kopftücher bewegte sich vor Mila die Treppe hoch. Sie wollte sich von dem Strom mitreißen lassen, kam aber kaum vom Fleck. Ihre Nachbarin erkannte die junge Braut aus Paris und packte Mila unterm Ellbogen. Zusammen schoben sie sich die Treppe hoch und in die erste Reihe.
    Im Unterschied zur Frauengalerie der Pariser Synagoge, in der eine niedrige Trennwand aus Bronze-Rosetten den Männern ermöglichte, sich zu ihren Frauen umzudrehen und ihnen zuzuwinken, befand sich die Frauengalerie der Williamsburger Synagoge hinter einem dicht gewebten Holzgeflecht. Mila blickte mit einem Auge durch eine rautenförmige Öffnung im Lattengeflecht. Die erste Tanzrunde hatte bereits begonnen, und die Füße der Männer hoben und senkten sich rhythmisch. Sie hielt nach Josef Ausschau, konnte ihn aber zwischen Hunderten gleichgekleideter Männer in schwarzen Kaftanen und Zobelmützen nicht entdecken.
    In der Mitte des Kreises wiegte sich der Rebbe, der einen weißen Kaftan trug und eine kleine Thorarolle in Händen hielt. Er hatte sich den Gebetsschal so über den Kopf gelegt, dass sein Gesicht nicht zu sehen war. Der Rebbe lief ein paar Schritte vor, als trüge ihn der Gesang der Männer, worauf die Männer wie Schilfgräser zurückwichen. »Aj mamale mamale aj«, rief der Rebbe, und »Ajajajajajaj«, antworteten die Chassidim.
    Als Mila die Männer tanzen sah, war ihr, als tanze auch sie. Sie lauschte dem Gesang und glaubte selbst zu singen, und als der Rebbe einen Sprung machte und die Thorarolle dabei fest gegen die Brust drückte, breitete sich das Kitzeln in ihren Knien bis in den Bauch aus.
    Der Rebbe hielt die Thorarolle hoch; die beiden Löwen, die auf die Hülle der Rolle gestickt waren und in den Vorderpfoten die Krone Judas hielten, sprangen vor, zogen sich wieder zurück und drehten sich mit im Kreis.
    Der Kopf des Rebbe kreiste hin und her, und der Gebetsschal glitt ihm von den Schultern.
    Jetzt war sein Gesicht zu sehen, und Mila erkannte ihn sofort: Es war der Mann mit der hohen Stirn, den lockeren Schläfenlocken und tiefen Augenhöhlen; der Mann, der unverwandt in sein Buch geschaut hatte, als ihre Mutter auf ihn zurannte; der Mann im offenen Viehwaggon.
    Die Frauen hinter ihr drängelten. Sie wollten auch etwas sehen und Mila vom Holzgitter wegschieben, doch Mila hielt sich mit den Händen am Gitter fest. »Siehst du, wie das Licht aus seinem Gesicht kommt und nicht auf sein Gesicht leuchtet?«, flüsterte die Nachbarin ihr ins Ohr.
    Der Rebbe lief ein paar Schritte von ihr weg und drehte sich dann wieder um. Mila dachte, er würde auf sie zulaufen, als er erneut »Aj Mamale aj« rief und zu tanzen begann. Er drehte sich im Kreis der Männer weiter und scherte dabei einmal hier, einmal dort aus wie eine

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