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Ich. Darf. Nicht. Schlafen.

Ich. Darf. Nicht. Schlafen.

Titel: Ich. Darf. Nicht. Schlafen. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S. J. Watson
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ich möglicherweise dabei empfunden hätte, über Nacht aus meiner Erinnerung verschwunden wäre wie Schnee, der auf einem warmen Dach schmilzt?
    Wir sind auf der Autobahn, lassen die Stadt hinter uns. Es hat angefangen zu regnen. Dicke Tropfen klatschen auf die Windschutzscheibe, halten einen Moment lang ihre Form, ehe sie rasch nach unten rutschen. In der Ferne geht die Sonne unter, taucht unter den Wolken hervor, wirft ein sanft orangegelbes Licht auf Beton und Glas. Es ist schön und schrecklich zugleich, doch ich kämpfe innerlich. Ich möchte so gern nicht nur abstrakt an meinen Sohn denken, doch ohne eine konkrete Erinnerung an ihn ist mir das unmöglich. Ich kehre immer wieder zu der einzigen Wahrheit zurück: Ich kann mich nicht an ihn erinnern, und somit könnte er genauso gut nie existiert haben.
    Ich schließe die Augen. Ich denke daran zurück, was ich heute Nachmittag über unseren Sohn gelesen habe, und ein Bild flammt vor meinem geistigen Auge auf – Adam als kleiner Knirps, wie er das blaue Dreirad einen Weg entlangschiebt. Doch noch während ich darüber staune, weiß ich, dass es nicht real ist. Ich weiß, ich erinnere mich nicht an etwas, was wirklich passiert ist, ich erinnere mich an das Bild, das ich heute Nachmittag im Kopf geformt habe, während ich davon las, und selbst das war eine Erinnerung an eine frühere Erinnerung. Erinnerungen an Erinnerungen, bei den meisten Menschen reichen sie Jahre zurück, Jahrzehnte, bei mir dagegen nur ein paar Stunden.
    Da ich mich nicht an meinen Sohn erinnern kann, tue ich das Nächstbeste, das Einzige, das den Aufruhr in meinem Kopf beruhigt. Ich denke an nichts. An gar nichts.
     
    Benzingeruch, stark und süßlich. Mein Nacken schmerzt. Ich öffne die Augen. Direkt vor mir sehe ich die nasse Windschutzscheibe, beschlagen von meinem Atem, und dahinter sind ferne Lichter, verschwommen, unscharf. Ich begreife, dass ich eingedöst sein muss. Ich lehne am Seitenfenster, den Kopf unangenehm verdreht. Das Auto ist still, der Motor aus. Ich blicke über die Schulter.
    Ben sitzt neben mir. Er ist wach, sieht geradeaus, nach draußen. Er bewegt sich nicht, scheint nicht mal zu bemerken, dass ich wieder wach bin, sondern starrt weiter vor sich hin, das Gesicht ausdruckslos, in der Dunkelheit unergründlich. Ich wende den Kopf, um zu sehen, was er anschaut.
    Vor der regennassen Frontscheibe ist die Kühlerhaube und davor ein niedriger Holzzaun, schwach erhellt vom Licht der Straßenlampen hinter uns. Vor dem Zaun sehe ich nur Schwärze, gewaltig und mysteriös, und in ihrer Mitte hängt der Mond, voll und tief.
    »Ich liebe das Meer«, sagt Ben, ohne mich anzusehen, und mir wird klar, das wir oben auf einer Klippe stehen, bis zur Küste gefahren sind.
    »Du nicht auch?« Er wendet sich mir zu. Seine Augen sehen unfassbar traurig aus. »Du liebst das Meer doch auch, nicht, Chris?«, sagt er.
    »Ja«, antworte ich. »Ja.« Er sagt das so, als ob er es nicht weiß, als ob wir noch nie vorher an der Küste gewesen sind, als ob wir noch nie zusammen Urlaub gemacht haben. Angst glimmt in mir auf, doch ich unterdrücke sie. Ich versuche hierzubleiben, in der Gegenwart, bei meinem Mann. Ich versuche, mich an all das zu erinnern, was ich heute Nachmittag aus meinem Tagebuch erfahren habe. »Das weißt du doch, Schatz.«
    Er seufzt. »Ich weiß. Ich wusste es immer, aber ich weiß es einfach nicht mehr. Du veränderst dich. Du hast dich verändert, im Laufe der Jahre. Seit die Sache passiert ist. Manchmal weiß ich nicht, wer du bist. Ich wache jeden Morgen auf, und ich weiß nicht, wie du sein wirst.«
    Ich schweige. Mir fällt nichts ein, was ich sagen könnte. Wir wissen beide, wie sinnlos es wäre, wenn ich versuchen würde, mich zu verteidigen, zu sagen, dass er sich irrt. Wir wissen beide, dass ich selbst wohl am wenigsten beurteilen kann, wie sehr ich mich von Tag zu Tag verändere.
    »Es tut mir leid«, sage ich.
    Er sieht mich an. »Ach. Schon gut. Du musst dich nicht entschuldigen. Ich weiß, es ist nicht deine Schuld. Nichts von alldem ist deine Schuld. Ich bin ungerecht. Egoistisch.«
    Er richtet die Augen wieder aufs Meer. In der Ferne glimmt ein einzelnes Licht. Ein Boot auf den Wellen. Licht in einem Meer aus zähflüssiger Schwärze. Ben sagt: »Wir kriegen das hin, nicht wahr, Chris?«
    »Natürlich«, sage ich. »Natürlich kriegen wir das hin. Das hier ist ein Neuanfang für uns. Ich habe jetzt mein Tagebuch, und Dr. Nash hilft mir. Mein Zustand wird

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