Ich. Darf. Nicht. Schlafen.
Kind bekommen. Ich spürte es, fast so, als wäre es noch bei mir, in meinen Poren. Ich las es wieder und wieder, versuchte, es mir ganz fest einzuprägen.
Und dann las ich weiter und erfuhr, dass mein Sohn tot ist. Es kam mir unwirklich vor. Unmöglich. Mein Herz wehrte sich gegen dieses Wissen, versuchte, es zurückzuweisen, obwohl ich wusste, dass es wahr ist. Mir wurde schlagartig übel. Galle stieg mir in die Kehle, und als ich sie runterschluckte, geriet der Raum um mich herum ins Wanken. Einen Moment lang war mir, als würde ich nach vorn auf den Boden kippen. Das Tagebuch rutschte mir vom Schoß, und ich unterdrückte einen Schmerzensschrei. Ich stand auf, zwang mich vorwärts, aus dem Schlafzimmer hinaus.
Ich ging ins Bad, um mir erneut die Fotos anzusehen, auf denen er sein müsste. Ich war verzweifelt, wusste nicht, was ich machen sollte, wenn Ben nach Hause kam. Ich stellte mir vor, wie er hereinkam, mir einen Kuss gab, das Abendessen zubereitete, ich sah uns, wie wir zusammen am Tisch saßen und aßen. Und dann würden wir fernsehen oder was wir sonst so abends machen, und die ganze Zeit würde ich so tun müssen, als wüsste ich nicht, dass ich einen Sohn verloren habe. Und dann würden wir ins Bett gehen, zusammen, und dann –
Es war mehr, als ich ertragen konnte. Ich konnte mich nicht bremsen. Ohne recht zu wissen, was ich da tat, griff ich nach den Fotos, zog sie ab, riss sie herunter. Im Nu waren sie überall. In meinen Händen. Verstreut auf dem Fliesenboden. Schwammen im Wasser der Toilettenschüssel.
Ich schnappte mir dieses Tagebuch und schob es in meine Handtasche. Mein Portemonnaie war leer, daher nahm ich einen der beiden Zwanzig-Pfund-Scheine, die hinter der Uhr auf dem Kaminsims versteckt waren, wie ich gelesen hatte, und rannte aus dem Haus. Ich wusste nicht, wohin ich sollte. Ich wollte zu Dr. Nash, aber ich wusste nicht, wo seine Praxis war oder wie ich dorthin kommen sollte, selbst wenn ich es wüsste. Ich fühlte mich hilflos. Allein. Und so lief ich einfach los.
Auf der Straße bog ich nach links, Richtung Park. Es war ein sonniger Nachmittag. Das orangefarbene Licht spiegelte sich auf den parkenden Autos und in den Pfützen, die vom morgendlichen Regen zurückgeblieben waren, aber es war kalt. Meine Atemwolken umhüllten mich. Ich zog den Mantel enger, den Schal über die Ohren, und eilte weiter. Blätter fielen von den Bäumen, wehten im Wind, häuften sich als brauner Matsch im Rinnstein.
Ich trat vom Bürgersteig. Bremsenquietschen. Ein Auto kam knirschend zum Stehen. Eine Männerstimme, gedämpft, hinter Glas.
Pass doch auf!
, blaffte der Mann.
Blöde Kuh!
Ich sah auf. Ich stand mitten auf der Straße, vor mir ein abgewürgter Wagen, dessen Fahrer wütend schimpfte. Ich hatte eine Vision, ich, Metall auf Knochen, ein Aufprall, ein Krümmen, und dann rutschte ich über die Kühlerhaube des Wagens oder darunter, lag da, ein zerschmettertes Knäuel, das Ende eines ruinierten Lebens.
Konnte es wirklich so einfach sein? Würde eine zweite Kollision das beenden, was durch die erste begonnen hatte, vor so vielen Jahren? Ich habe das Gefühl, schon seit zwanzig Jahren tot zu sein, aber muss das Ganze wirklich so enden?
Wer würde mich vermissen? Mein Mann. Ein Arzt, vielleicht, doch für ihn bin ich nur eine Patientin. Aber sonst gibt es niemanden. Ist mein Freundeskreis so klein geworden? Haben meine Freunde mich im Stich gelassen, einer nach dem anderen? Wie schnell ich vergessen sein werde, sollte ich sterben.
Ich sah den Mann in dem Wagen an. Er oder jemand wie er hatte mir das angetan. Mir alles geraubt. Mich sogar meiner selbst beraubt. Doch da war er, noch quicklebendig.
Noch nicht
, dachte ich.
Noch nicht
. Wie immer mein Leben auch enden sollte, so wünschte ich es mir jedenfalls nicht. Ich dachte an den Roman, den ich geschrieben hatte, an das Kind, das ich großgezogen hatte, sogar an die Feuerwerksparty mit meiner besten Freundin vor vielen Jahren. Ich habe noch immer Erinnerungen ans Licht zu bringen. Dinge zu entdecken. Meine eigene Wahrheit zu finden.
Ich formte lautlos das Wort
Entschuldigung
mit den Lippen, lief rasch auf die andere Straßenseite, durch ein Tor und in den Park.
Eine Hütte stand mitten auf dem Rasen. Ich ging hinein und kaufte mir einen Kaffee, setzte mich dann draußen auf eine Bank und wärmte mir die Hände an dem Styroporbecher. Gegenüber war ein Spielplatz. Eine Rutsche, Schaukeln, ein Karussell. Ein kleiner Junge saß auf einem
Weitere Kostenlose Bücher