Ich. Darf. Nicht. Schlafen.
»Meine Freundin, Claire. Lebt sie noch?«
»Claire?«, sagte Ben. Er blickte einen langen Augenblick verwirrt, und dann veränderte sich seine Miene. »Du erinnerst dich an Claire?«
Er wirkte überrascht. Ich rief mir in Erinnerung, dass es – jedenfalls laut meinem Tagebuch – ein paar Tage her war, seit ich ihm erzählt hatte, ich hätte mich an sie auf der Party auf dem Dach erinnert.
»Ja«, sagte ich. »Wir waren befreundet. Was ist aus ihr geworden?«
Ben sah mich an, traurig, und einen Moment lang erstarrte ich. Er sprach bedächtig, doch was er dann sagte, war nicht so schlimm, wie ich befürchtet hatte. »Sie ist weggezogen«, sagte er. »Vor vielen Jahren. Ist bestimmt schon zwanzig Jahre her, glaub ich. Jedenfalls nur wenige Jahre nach unserer Heirat.«
»Wohin?«
»Neuseeland.«
»Haben wir Kontakt?«
»Ihr hattet eine Zeitlang Kontakt, aber nein. Nicht mehr.«
Das erscheint mir unmöglich.
Meine beste Freundin
, hatte ich geschrieben, nachdem sie mir auf dem Parliament Hill wieder eingefallen war, und ich hatte das gleiche Gefühl von Nähe empfunden, als ich heute an sie denken musste. Wieso wäre es mir sonst wichtig, was sie dachte?
»Haben wir uns zerstritten?«
Er zögerte, und wieder spürte ich, dass er kalkulierte, sich etwas zurechtlegte. Ich begriff, dass Ben natürlich weiß, was mich aufregt. Er hat jahrelang Erfahrung gesammelt, was mir zuzumuten ist und wann wir uns auf gefährliches Terrain begeben. Schließlich führt er dieses Gespräch nicht zum ersten Mal mit mir. Er hatte reichlich Gelegenheit zu üben, zu lernen, welche Routen keine Schneise durch die Landschaft meines Lebens pflügen und mich woandershin katapultieren.
»Nein«, sagte er. »Ich glaube nicht. Ihr habt euch nicht zerstritten. Jedenfalls hast du nie was davon gesagt. Ich glaube, ihr habt euch einfach auseinandergelebt, und dann hat Claire jemanden kennengelernt, und sie haben geheiratet und sind ausgewandert.«
Ein Bild tauchte auf. Claire und ich, wie wir witzeln, dass wir niemals heiraten werden. »Heiraten ist was für Verlierer!«, sagte sie, hob dann eine Flasche Rotwein an die Lippen, und ich pflichtete ihr bei, obwohl ich gleichzeitig wusste, dass ich eines Tages ihre Brautjungfer sein würde und sie meine, dass wir elegant gekleidet in Hotelzimmern Champagner aus schlanken Gläsern trinken würden, während uns jemand die Haare frisierte.
Ich empfand einen jähen Anflug von Liebe. Obwohl ich mich nur an einen Bruchteil aus unserer gemeinsamen Zeit, unserem gemeinsamen Leben erinnert habe – und selbst den morgen wieder vergessen haben werde –, spürte ich irgendwie, dass nach wie vor eine Verbindung zwischen uns besteht, dass sie eine Zeitlang der wichtigste Mensch für mich gewesen ist.
»Waren wir auf der Hochzeit?«, fragte ich.
»Ja«, nickte er, öffnete die Schatulle auf seinem Schoß und kramte darin herum. »Hier sind ein paar Fotos.«
Es waren Hochzeitsfotos, aber keine Profiaufnahmen. Sie waren verwackelt und dunkel, von einem Amateur aufgenommen. Von Ben, vermutete ich. Ich nahm das erste behutsam in die Hand. Bisher hatte ich Claire nur in meiner Erinnerung gesehen.
Sie war genauso, wie ich sie mir vorgestellt hatte. Groß, schlank. Vielleicht noch schöner. Sie stand oben auf einer Klippe, ihr durchscheinendes Kleid wehte im Wind, hinter ihr das Meer, über dem die Sonne unterging. Wunderschön. Ich legte das Foto hin und sah die übrigen durch. Auf einigen war sie mit ihrem Bräutigam zu sehen – einem Mann, den ich nicht kannte –, und auf anderen hatte ich mich zu ihnen gesellt; gekleidet in blassblaue Seide sah ich fast ebenso hübsch aus. Es stimmt, ich bin ihre Brautjungfer gewesen.
»Gibt es auch welche von unserer Hochzeit?«, fragte ich.
Er schüttelte den Kopf. »Die hatten wir in einem eigenen Album«, sagte er. »Es ist verlorengegangen.«
Natürlich. Der Brand.
Ich hielt ihm die Fotos hin. Mir war, als würde ich auf ein anderes Leben blicken, nicht mein eigenes. Ich wollte nur noch nach oben, um aufzuschreiben, was ich erfahren hatte.
»Ich bin müde«, sagte ich. »Ich muss mich ausruhen.«
»Natürlich«, sagte er, nahm mir den Stoß Fotos aus der Hand und legte sie zurück in die Schatulle.
»Ich werde sie sicher aufbewahren«, sagte er, während er den Deckel schloss, und ich ging hoch zu meinem Tagebuch und schrieb das hier.
***
Mitternacht. Ich liege im Bett. Allein. Versuche, zu verstehen, was heute passiert ist. Was ich alles erfahren
Weitere Kostenlose Bücher