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Ich. Darf. Nicht. Schlafen.

Ich. Darf. Nicht. Schlafen.

Titel: Ich. Darf. Nicht. Schlafen. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S. J. Watson
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geben. Doch dann –« Er zuckte mit den Schultern, sah nach unten auf die Serviette, die er in den Händen hielt. Einen Moment lang dachte ich, er würde nicht weitersprechen.
    »Dann was?«
    »Na ja, dein Zustand schien sich zu verschlechtern. Eines Tages wusstest du nicht mehr, wer ich war, als ich hereinkam. Du hast gedacht, ich wäre ein Arzt. Und dann hast du auch vergessen, wer du bist. Du wusstest weder deinen Namen, noch in welchem Jahr du geboren bist. Nichts mehr. Sie stellten fest, dass du auch keine neuen Erinnerungen bilden konntest. Sie haben Tests gemacht, MRT s. Alles. Aber es hat nichts genützt. Sie sagten, der Unfall hätte einen Gedächtnisverlust verursacht. Einen permanenten. Es gäbe keine Heilung, nichts, was sie tun könnten.«
    »Nichts? Sie haben nichts versucht?«
    »Nein. Sie meinten, entweder dein Gedächtnis würde zurückkommen oder nicht, und dass die Wahrscheinlichkeit, dass es jemals wiederkäme, immer geringer würde, je länger sich keine Besserung einstellte. Mir haben sie gesagt, ich könnte nichts anderes tun, als gut für dich sorgen. Und das habe ich seitdem versucht.« Er nahm meine beiden Hände, streichelte meine Finger, streifte das harte Metall meines Eherings.
    Er beugte sich vor, bis sein Kopf nur wenige Zentimeter von meinem entfernt war. »Ich liebe dich«, flüsterte er, doch ich konnte nichts erwidern, und wir aßen unser Essen schweigend zu Ende. Ich spürte einen Groll in mir anwachsen. Wut. Er wirkte so fest davon überzeugt, dass mir nicht zu helfen war. So unerschütterlich. Plötzlich hatte ich keine Lust mehr, ihm von meinem Tagebuch zu erzählen oder von Dr. Nash. Ich wollte meine Geheimnisse zumindest noch ein Weilchen für mich behalten. Irgendwie, so fand ich, waren sie das Einzige, von dem ich sagen konnte, dass es wirklich mir gehörte.
    ***
    Wir kamen nach Hause. Ben machte sich einen Kaffee, und ich ging ins Bad. Dort schrieb ich, so viel ich konnte, vom vergangenen Tag auf, zog mich dann aus und schminkte mich ab. Ich schlüpfte in meinen Bademantel. Wieder ging ein Tag zu Ende. Bald werde ich schlafen, und mein Gehirn wird alles wieder löschen. Morgen werde ich alles wieder neu durchmachen.
    Ich erkannte, dass ich kein Ziel habe. Wie denn auch. Ich will mich einfach nur ganz normal fühlen. Will ein Leben wie alle anderen, in dem Erfahrungen auf Erfahrungen aufbauen, und jeder Tag den nächsten formt. Ich möchte mich entwickeln, Dinge lernen und aus ihnen lernen. Dort, im Badezimmer, dachte ich daran, wie mein Alter aussehen würde. Ich versuchte, es mir vorzustellen. Werde ich mit siebzig oder achtzig morgens nach dem Aufwachen immer noch denken, ich stünde am Anfang meines Lebens? Werde ich aufwachen, ohne zu ahnen, dass meine Knochen alt, meine Gelenke steif und schwer sind? Ich kann mir nicht vorstellen, wie ich es verkraften soll, wenn ich feststelle, dass mein Leben hinter mir liegt, bereits gelebt wurde, ohne irgendetwas, das davon zeugt. Kein Haus voller Erinnerungen, kein Erfahrungsschatz, keine Lebensweisheiten, die ich weitergeben könnte. Was sind wir denn, wenn nicht eine Ansammlung von Erinnerungen? Wie werde ich mich fühlen, wenn ich in den Spiegel schaue und das Gesicht meiner Großmutter sehe? Ich weiß es nicht, aber ich darf mir nicht erlauben, jetzt darüber nachzudenken.
    Ich hörte Ben ins Schlafzimmer gehen. Ich konnte das Tagebuch also nicht mehr im Kleiderschrank verstecken, daher legte ich es unter meine ausgezogenen Sachen auf den Stuhl neben der Wanne.
Ich werde es später holen
, dachte ich,
sobald er schläft
. Ich machte das Licht aus und ging ins Schlafzimmer.
    Ben saß im Bett und schaute mich an. Ich sagte nichts, legte mich aber neben ihn. Ich sah, dass er nackt war. »Ich liebe dich, Christine«, sagte er und fing dann an, mich zu küssen, auf den Hals, die Wange, die Lippen. Sein Atem war warm und roch nach Knoblauch. Ich wollte nicht, dass er mich küsste, aber ich schob ihn nicht weg.
Ich bin schließlich selbst schuld
, dachte ich. Indem ich dieses blöde Kleid angezogen habe, mich geschminkt und Parfüm aufgelegt, gesagt habe, er soll mich küssen, ehe wir ausgingen.
    Ich wandte mich ihm zu und erwiderte seine Küsse, obwohl ich es nicht wollte. Ich versuchte, mir vorzustellen, wie wir beide in dem Haus waren, das wir frisch gekauft hatten, wie wir uns auf dem Weg ins Schlafzimmer die Kleider vom Leib rissen und unser ungekochtes Mittagessen in der Küche verdarb. Ich sagte mir, dass ich ihn damals

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