Ich. Darf. Nicht. Schlafen.
alles verlorengegangen, dass meine Vergangenheit komplett verschwunden wäre. Vielleicht war jetzt der richtige Moment, um ihm von den erhaschten Augenblicken zu erzählen, die ich noch immer hatte, von Dr. Nash. Meinem Tagebuch. Von allem.
»Aber dann und wann erinnere ich mich an etwas«, sagte ich. Er blickte überrascht. »Ich glaube, es kommt so einiges zurück, in Erinnerungsblitzen.«
Er löste seine Hände. »Wirklich? Was denn so?
»Ach, kommt drauf an. Manchmal nichts Großartiges. Bloß sonderbare Gefühle, Empfindungen. Visionen. Ein bisschen wie Träume, aber sie kommen mir zu real vor, um ausgedacht zu sein.« Er sagte nichts. »Das müssen Erinnerungen sein.«
Ich wartete, rechnete damit, dass er nachhakte, wissen wollte, was ich alles gesehen hatte und woher ich überhaupt wusste, was für Erinnerungen ich gehabt hatte.
Aber er schwieg. Er sah mich bloß weiter traurig an. Ich dachte an die Erinnerungen, die ich aufgeschrieben hatte, die eine, in der er mir in der Küche unseres ersten Hauses Wein angeboten hatte. »Ich hatte eine Vision von dir«, sagte ich. »Viel jünger …«
»Was hab ich gemacht?«, fragte er.
»Nicht viel«, erwiderte ich. »Bloß in der Küche gestanden.« Ich dachte an die junge Frau, ihre Mutter und ihren Vater, die ein paar Schritte entfernt saßen. Meine Stimme senkte sich zu einem Flüstern. »Mich geküsst.«
Da lächelte er.
»Ich dachte, wenn ich fähig bin,
eine
Erinnerung zu haben, dann bin ich vielleicht auch fähig, noch viel mehr zu haben –«
Er griff über den Tisch und nahm meine Hand. »Aber die Sache ist die, morgen kannst du dich nicht mehr an die Erinnerung erinnern. Das ist das Problem. Du hast kein Fundament, auf das du aufbauen kannst.«
Ich seufzte. Es stimmt, was er sagte. Ich kann nicht für den Rest meines Lebens alles aufschreiben, was ich erlebe, wenn ich es auch noch jeden Tag lesen muss.
Ich sah wieder zu der Familie am Nebentisch hinüber. Die junge Frau löffelte sich unbeholfen Minestrone in den Mund, bekleckerte das Stofflätzchen, das ihre Mutter ihr umgebunden hatte. Ich konnte das Leben der Eltern sehen, gefangen in der Rolle von Betreuern, einer Rolle, von der sie gedacht hatten, dass sie sie schon seit Jahren nicht mehr ausfüllen müssten.
Wir sind genauso
, dachte ich. Auch ich muss mit dem Löffel gefüttert werden. Und mir wurde eines klar: Ganz ähnlich wie die beiden ihre Tochter liebt Ben mich auf eine Art, die ich nie erwidern kann.
Dennoch, vielleicht waren wir ja doch anders. Vielleicht bestand noch Hoffnung für uns.
»Möchtest du, dass ich wieder gesund werde?«, fragte ich.
Er blickte überrascht. »Christine«, sagte er. »Bitte …«
»Vielleicht könnte ich mir ja Hilfe suchen? Bei einem Arzt?«
»Das haben wir schon versucht –«
»Aber vielleicht bringt es ja diesmal was? Es werden ständig Fortschritte gemacht, auf allen Gebieten. Vielleicht gibt es eine neue Behandlungsmethode? Etwas, was wir ausprobieren könnten?«
Er drückte meine Hand. »Christine, es gibt keine. Glaub mir. Wir haben alles versucht.«
»Was?«, sagte ich. »Was haben wir versucht?«
»Chris, bitte. Nicht –«
»Was haben wir versucht?«, sagte ich. »Was?«
»Alles«, sagte er. »Alles. Du weißt nicht, wie das war.« Er blickte beklommen. Seine Augen huschten von links nach rechts, als rechnete er mit einem Schlag und wüsste nicht, aus welcher Richtung er kommen würde. Ich hätte die Frage auf sich beruhen lassen können, tat es aber nicht.
»Wie, Ben? Ich muss das wissen. Wie war es?«
Er sagte nichts.
»Erzähl’s mir!«
Er hob den Kopf und schluckte schwer. Er blickte erschrocken, das Gesicht rot, die Augen weit aufgerissen. »Du lagst im Koma«, sagte er. »Alle dachten, du würdest sterben. Aber ich nicht. Ich wusste, dass du stark warst, dass du durchkommen würdest. Ich wusste, du würdest wieder wach werden. Und dann, eines Tages, rief das Krankenhaus an, und sie sagten, du wärst aufgewacht. Die hielten das für ein Wunder, aber ich wusste, dass es keins war. Du warst zu mir zurückgekommen, meine Chris. Du warst benommen. Durcheinander. Du wusstest nicht, wo du warst, und du konntest dich überhaupt nicht an den Unfall erinnern, aber du hast mich erkannt, und deine Mutter, obwohl du nicht so richtig wusstest, wer wir waren. Die Ärzte meinten, es bestände kein Grund zur Besorgnis, ein vorübergehender Gedächtnisverlust wäre ganz normal nach einem so schweren Unfall, das würde sich aber wieder
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