Ich. Darf. Nicht. Schlafen.
Weckers neben mir. Ich drehte mich auf die Seite und schloss die Augen. Ich sah immerzu mich selbst, Hände, die mir die Kehle zudrückten, die Luft abschnürten. Ich hörte immerzu meine eigene Stimme, gellend. Ich werde sterben.
Ich dachte an mein Tagebuch. Würde es helfen, noch mehr zu schreiben? Es noch einmal zu lesen? Konnte ich es wirklich aus seinem Versteck holen, ohne dass Ben wach wurde?
Er lag da, kaum sichtbar im Dunkeln.
Du belügst mich
, dachte ich. Ich weiß es. Weil es stimmt. Er lügt in Bezug auf meinen Roman, in Bezug auf Adam. Und jetzt bin ich sicher, dass auch seine Erklärung, wie alles passiert ist, wie ich in dieser Gefangenschaft gelandet bin, gelogen ist.
Am liebsten hätte ich ihn wachgerüttelt, ihn angeschrien:
Warum? Warum erzählst du mir, ich wäre auf einer eisglatten Straße von einem Auto überfahren worden?
Ich fragte mich, wovor er mich wohl schützt. Wie schlimm die Wahrheit sein mag.
Und was ich sonst noch alles nicht weiß …
Meine Gedanken schweiften von meinem Tagebuch zu der Metallschatulle, in der Ben die Fotos von Adam aufbewahrt.
Vielleicht finden sich darin ja weitere Antworten
, dachte ich.
Vielleicht finde ich die Wahrheit
.
Ich beschloss aufzustehen. Vorsichtig schlug ich die Bettdecke zurück, um meinen Mann nicht zu wecken. Ich holte das Tagebuch aus dem Versteck und schlich barfuß auf den Flur. Das Haus wirkte jetzt ganz anders, im bläulichen Glanz des Mondlichts. Starr und still.
Ich zog die Schlafzimmertür hinter mir zu, ein leises Schaben von Holz auf Teppich, ein zartes Klicken, als das Schloss einrastete. Gleich auf dem Flur überflog ich rasch, was ich geschrieben hatte. Ich las, dass Ben mir erzählt hatte, ich wäre von einem Auto überfahren worden. Ich las, dass er mir meinen Roman verschwiegen hatte. Ich las von unserem Sohn.
Ich musste ein Foto von Adam sehen. Aber wo sollte ich die Schatulle suchen? »Die bewahre ich oben auf«, hatte er gesagt. »Zur Sicherheit.« Das wusste ich. Ich hatte es aufgeschrieben. Aber wo genau? Im Gästezimmer? Im Arbeitszimmer? Wie sollte ich nach etwas suchen, von dem ich mich nicht erinnern konnte, es je gesehen zu haben?
Ich brachte rasch das Tagebuch wieder zurück und ging dann ins Arbeitszimmer, dessen Tür ich ebenfalls schloss. Mondlicht schien durchs Fenster, tauchte den Raum in einen gräulichen Schimmer. Ich traute mich nicht, Licht zu machen, durfte nicht riskieren, dass Ben mich dabei ertappte, wie ich hier herumschnüffelte. Er würde wissen wollen, wonach ich suchte, und was sollte ich ihm dann sagen? Was für einen Vorwand könnte ich ihm nennen? Es gäbe zu viele Fragen, auf die ich keine Antwort hätte.
Die Schatulle war aus Metall, hatte ich geschrieben, und grau. Ich sah zuerst auf dem Schreibtisch nach. Ein kleiner Computer mit einem unwahrscheinlich flachen Bildschirm, Kugelschreiber und Stifte in einem Becher, Papiere in ordentlichen Stapeln, ein Seepferdchen aus Keramik als Briefbeschwerer. Über dem Schreibtisch hing ein Wandplaner, übersät mit bunten Klebezetteln, Kreisen und Sternchen. Unter dem Schreibtisch standen eine Ledermappe und ein Papierkorb, beide leer, und daneben ein Aktenschrank.
Dort sah ich zuerst nach. Ich zog langsam, geräuschlos die obere Schublade auf. Sie war voll mit Unterlagen in Heftern, die mit
Haus, Arbeit, Finanzen
beschriftet waren. Hinter den Heftern fand ich ein Plastikfläschchen mit Tabletten, konnte im Halbdunkel jedoch den Namen nicht entziffern. Die zweite Schublade war voll mit Büromaterial – Schachteln, Notizblöcke, Stifte, Tipp-Ex –, und ich schloss sie leise wieder, ging dann in die Hocke, um die untere Schublade zu öffnen.
Ein Handtuch, oder eher eine Decke, schwer zu sagen in dem Dämmerlicht. Ich hob eine Ecke an, tastete darunter, berührte kaltes Metall. Ich nahm die Decke heraus. Darunter war die Metallschatulle, größer, als ich sie mir vorgestellt hatte, so groß, dass sie fast die ganze Schublade füllte. Ich hob sie an und stellte fest, dass sie auch schwerer war, als ich gedacht hatte, so dass sie mir fast aus den Händen gerutscht wäre, als ich sie heraushob und auf den Boden stellte.
Die Schatulle stand vor mir. Einen Moment lang wusste ich nicht, was ich jetzt machen sollte, ob ich sie überhaupt öffnen wollte. Was für neue Schrecken mochte sie enthalten? Wie die Erinnerung selbst barg sie womöglich Wahrheiten, die ich mir nicht mal ansatzweise vorstellen konnte. Ungeahnte Träume und unerwartetes
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