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Ich. Darf. Nicht. Schlafen.

Ich. Darf. Nicht. Schlafen.

Titel: Ich. Darf. Nicht. Schlafen. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S. J. Watson
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Entsetzen. Ich hatte Angst. Doch diese Wahrheiten, so machte ich mir klar, sind alles, was ich habe. Sie sind meine Vergangenheit. Sie sind das, was mich zum Menschen macht. Ohne sie bin ich nichts. Nichts als ein Tier.
    Ich atmete tief ein, mit geschlossenen Augen, und wollte den Deckel öffnen.
    Er bewegte sich nicht. Ich versuchte es erneut, weil ich dachte, er würde klemmen, und dann ein weiteres Mal, ehe ich begriff. Die Schatulle war abgeschlossen. Ben hatte sie abgeschlossen.
    Ich bemühte mich, ruhig zu bleiben, doch dann stieg Wut in mir auf, unaufhaltsam. Wie kam er dazu, diese Schatulle voller Erinnerungen einfach abzuschließen? Mir vorzuenthalten, was mir gehörte?
    Der Schlüssel konnte nicht weit sein, da war ich sicher. Ich sah in der Schublade nach. Ich faltete die Decke auseinander und schüttelte sie aus. Ich stand auf, kippte die Kugelschreiber und Stifte aus dem Becher auf den Schreibtisch und schaute hinein. Nichts.
    Verzweifelt durchsuchte ich die übrigen Schubladen, so gut das im Halbdunkel möglich war. Ich fand keinen Schlüssel und begriff, dass er Gott weiß wo sein konnte. Überall. Ich sank auf die Knie.
    Ein Geräusch. Ein Knarren, so leise, dass ich erst dachte, es wäre mein eigener Körper. Doch dann ein anderes Geräusch. Atmen. Oder ein Seufzen.
    Eine Stimme. Ben. »Christine?«, sagte er und dann lauter: »Christine?«
    Was sollte ich tun? Ich hockte in seinem Arbeitszimmer, vor mir auf dem Boden die Metallschatulle, von der Ben glaubt, ich hätte keine Erinnerung daran. Panik ergriff mich. Eine Tür öffnete sich, das Licht im Flur ging an, erhellte den Spalt rings um die Tür. Er kam.
    Ich reagierte rasch. Ich stellte die Schatulle zurück und knallte die Schublade zu. Schnell zu handeln war wichtiger, als lautlos zu sein.
    »Christine?«, rief er wieder. Schritte auf dem Flur. »Christine, Schatz? Ich bin’s, Ben.« Ich steckte die Stifte zurück in den Becher auf dem Schreibtisch und ließ mich zu Boden sinken. Die Tür ging auf.
    Ich wusste nicht, was ich tun würde, bis ich es tat. Ich reagierte instinktiv, aus der tiefsten Tiefe meines Innersten.
    »Hilfe!«, sagte ich, als er in der offenen Tür erschien. Seine Silhouette zeichnete sich gegen das Licht vom Flur ab, und einen Moment lang empfand ich das Grauen, das ich spielte, tatsächlich. »Bitte! Hilfe!«
    Er schaltete das Licht an und kam auf mich zu. »Christine! Was hast du?«, sagte er. Er ging vor mir in die Hocke.
    Ich wich zurück, weg von ihm, bis ich gegen die Wand unter dem Fenster stieß. »Wer sind Sie?«, sagte ich. Ich merkte, dass ich jetzt weinte, hysterisch zitterte. Ich griff nach der Wand hinter mir, packte den Vorhang, der über mir hing, als wollte ich mich dran hochziehen. Ben blieb, wo er war, auf der anderen Seite des Raumes. Er streckte mir eine Hand entgegen, als wäre ich gefährlich, ein wildes Tier.
    »Ich bin es«, sagte er. »Dein Mann.«
    »Mein was?«, sagte ich und dann: »Was ist los mit mir?«
    »Du hast Amnesie«, sagte er. »Wir sind seit vielen Jahren verheiratet.« Und dann, während er mir die Tasse Kakao machte, die noch immer vor mir steht, ließ ich ihn alles erzählen. Von Anfang an, alles, was ich bereits wusste.

Sonntag, 18. November
    Das passierte am Samstag in den frühen Morgenstunden. Heute ist Sonntag. Gegen Mittag. Ein ganzer Tag ist vergangen, ohne Aufzeichnungen. Vierundzwanzig Stunden, verloren. Vierundzwanzig Stunden, in denen ich alles glaubte, was Ben mir erzählt hatte. Nicht wusste, dass ich einen Roman geschrieben habe, dass ich einen Sohn hatte. Glaubte, dass es ein Unfall war, der mir meine Vergangenheit geraubt hat.
    Vielleicht hat Dr. Nash, anders als heute, nicht angerufen, so dass ich das Tagebuch nicht lesen konnte. Oder vielleicht hat er angerufen, aber ich beschloss, es nicht zu lesen. Ein Frösteln durchläuft mich. Was würde passieren, wenn er eines Tages beschließt, nie mehr anzurufen? Ich würde das Tagebuch nie finden, nie lesen, nicht mal wissen, dass es existiert. Ich würde nichts über meine Vergangenheit erfahren.
    Das wäre unvorstellbar. Ich weiß das jetzt. Mein Mann erzählt mir eine Version, wieso ich keine Erinnerungen habe, meine Gefühle eine ganz andere. Ich frage mich, ob ich Dr. Nash je gefragt habe, was passiert ist. Und selbst falls ja, kann ich glauben, was er sagt? Die einzige Wahrheit, die ich habe, steht in diesem Tagebuch.
    Aufgeschrieben von mir. Das darf ich niemals vergessen. Aufgeschrieben von mir.
     
    Ich

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