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Ich. Darf. Nicht. Schlafen.

Ich. Darf. Nicht. Schlafen.

Titel: Ich. Darf. Nicht. Schlafen. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S. J. Watson
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denke an heute Morgen. Ich erinnere mich, dass die Sonne durch die Vorhänge knallte, mich jäh aufweckte. Meinen Augen, die sich flatternd öffneten, bot sich ein ungewöhnlicher Anblick, und ich war verwirrt. Doch obwohl mir bestimmte Ereignisse nicht mehr einfielen, hatte ich das Gefühl, auf eine reiche Vergangenheit zurückzuschauen, nicht bloß auf ein paar kurze Jahre. Und ich wusste, wenn auch undeutlich, dass in dieser Vergangenheit ein Kind vorkam, mein Kind. In diesem Sekundenbruchteil, ehe ich ganz bei Bewusstsein war, wusste ich, dass ich Mutter war. Dass ich ein Kind großgezogen hatte, dass mein Körper nicht mehr der einzige war, den ich zu nähren und zu schützen hatte.
    Ich drehte mich um, spürte einen anderen Körper im Bett, einen Arm über meine Taille gelegt. Ich war nicht beunruhigt, sondern fühlte mich sicher. Glücklich. Je wacher ich wurde, desto mehr wurden die Bilder und Gefühle zu Wahrheit und Erinnerung. Zuerst sah ich meinen kleinen Jungen, sah mich, wie ich seinen Namen rief – Adam – und wie er auf mich zugelaufen kam. Und dann erinnerte ich mich an meinen Mann. An seinen Namen. Ich fühlte mich sehr verliebt. Ich lächelte.
    Das friedliche Gefühl währte nicht lange. Ich sah den Mann neben mir an, und sein Gesicht war nicht das, was ich erwartet hatte. Einen Moment später begriff ich, dass ich den Raum, in dem ich geschlafen hatte, nicht kannte, mich nicht erinnern konnte, wie ich hergekommen war. Und dann schließlich wurde mir bewusst, dass ich mich an nichts deutlich erinnern konnte. Diese kurzen, unzusammenhängenden Fragmente waren nicht stellvertretend für meine Erinnerungen gewesen, sondern ihre Gesamtheit.
    Ben erklärte es mir natürlich. Zumindest teilweise. Und dieses Tagebuch erklärte den Rest, nachdem Dr. Nash angerufen und ich es gefunden hatte. Ich hatte keine Zeit, es ganz zu lesen – ich hatte nach unten gerufen, ich hätte Kopfschmerzen, und dann auf die leisesten Bewegungen unten gelauscht, aus Sorge, Ben könnte jeden Moment mit einem Aspirin und einem Glas Wasser hochkommen –, und übersprang ganze Passagen. Aber ich habe genug gelesen. Das Tagebuch hat mir verraten, wer ich bin, wieso ich hier bin, was ich habe und was ich verloren habe. Es hat mir verraten, dass nicht alles verloren ist. Dass meine Erinnerungen zurückkommen, und sei es noch so langsam. Dr. Nash hat mir das gesagt, an dem Tag, an dem er während unserer Sitzung mein Tagebuch gelesen hat.
Sie erinnern sich an eine ganze Menge, Christine,
hatte er gesagt.
Ich sehe keinen Grund, warum das nicht so weitergehen sollte
. Und das Tagebuch hat mir verraten, dass der Unfall mit Fahrerflucht eine Lüge war, dass ich mich irgendwo, tief versteckt, daran erinnern kann, was mir in der Nacht passiert ist, als ich das Gedächtnis verlor. Dass dabei kein Auto und eisglatte Straßen eine Rolle spielen, sondern Champagner und Blumen und ein Klopfen an die Tür eines Hotelzimmers.
    Und jetzt habe ich einen Namen. Der Name des Mannes, den zu sehen ich erwartete, als ich heute Morgen die Augen aufschlug, war nicht Ben.
    Ed. Als ich aufwachte, meinte ich, neben einem Mann namens Ed zu liegen.
    Ich wusste nicht, wer dieser Ed war. Ich dachte, es gäbe ihn vielleicht gar nicht, ich hätte den Namen erfunden, mir einfach so einfallen lassen. Oder vielleicht wäre er ein früherer Liebhaber, ein One-Night-Stand, den ich nicht ganz vergessen hatte. Doch jetzt habe ich das Tagebuch gelesen. Ich habe erfahren, dass ich in einem Hotelzimmer angegriffen wurde. Und deshalb weiß ich, wer dieser
Ed
ist.
    Er ist der Mann, der an jenem Abend auf der anderen Seite der Tür stand. Der Mann, der mich angegriffen hat. Der Mann, der mein Leben gestohlen hat.
    ***
    Heute Abend habe ich meinen Mann auf die Probe gestellt. Ich hatte es nicht vor, hatte es nicht geplant, aber ich hatte mir den ganzen Tag über Gedanken gemacht.
Warum hat er mich belogen? Warum? Und belügt er mich jeden Tag? Erzählt er mir nur eine Version der Vergangenheit oder mehrere?
Ich muss ihm vertrauen, dachte ich. Ich habe niemanden sonst.
    Wir aßen Lamm; einen billigen Braten, fett und zerkocht. Ich schob dieselbe Gabel voll auf dem Teller hin und her, tauchte sie in Soße, führte sie an den Mund, legte sie wieder hin. »Wie ist das mit mir passiert?«, fragte ich. Ich hatte versucht, die Vision von dem Hotelzimmer heraufzubeschwören, aber sie blieb schwer fassbar, knapp außer Reichweite. In gewisser Weise war ich froh darüber.
    Ben

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