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Ich darf nicht vergessen

Ich darf nicht vergessen

Titel: Ich darf nicht vergessen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice LaPlante
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erfinden, sagt Fiona.
    A manda hat mich schon immer als schamlos bezeichnet. Sie meint das als Kompliment. Scham-los. Ohne Scham. Früher habe ich im Beichtstuhl gelogen, weil mir nie etwas einfiel, für das ich um Vergebung hätte bitten können. Leute, die das bis ins Extrem treiben, nennt man Soziopathen, sagt Amanda. Du hast da eine gewisse Tendenz. Du solltest dich in Acht nehmen.
    Segne mich, Vater, denn ich habe gesündigt.
    Es ist sechsundvierzig Jahre her, dass ich zum letzten Mal zur Beichte gegangen bin.
    Meine Güte, wie die Zeit verfliegt.
    E s ist immer wieder dasselbe. Ich wache früh auf, hoffe, ein bisschen was erledigen zu können, bevor die Kinder in die Küche gestürmt kommen und frühstücken wollen, aber jemand ist noch vor mir aufgestanden. Diese blonde Frau. Verdammt. Doch diesmal ist sie nicht allein. Eine Frau ist bei ihr, und die trinkt Kaffee aus meiner Lieblingstasse. Schwere Knochen. Kurzes, hellbraunes Haar, hinter die Ohren geschoben. Sie trägt eine Jeansjacke, Jeans und Cowboystiefel.
    Jennifer, was …?
    Wie bitte?, frage ich, aber die Blondine ist schon aus der Küche gerannt. Sie kommt mit einem blauen Badetuch zurück und legt es mir um. Sie fasst mich an den Schultern, dreht mich um und führt mich aus der Küche.
    Mir ist irgendwie kalt, etwas Flüssiges tropft von meinem Nachthemd auf den Holzboden, ich sehe meine nassen Fußabdrücke auf dem Eichenparkett. Die Blondine redet mit mir, während sie mich nach oben führt.
    Das haben Sie ja prima hingekriegt – ausgerechnet heute. Hab ich Ihnen nicht Bescheid gesagt? Hab ich es Ihnen nicht in Ihr Heft geschrieben? Haben wir nicht gestern Abend darüber gesprochen? Ich schwöre Ihnen, manchmal hab ich das Gefühl, dass ich diejenige in diesem Haus bin, die durchdreht.
    Sie zieht mir die nassen Sachen aus, rubbelt mich mit dem Handtuch trocken, zieht mir einen blauen Rock und einen blau-rot-gestreiften Pullover an und redet dabei die ganze Zeit.
    So, und jetzt seien Sie schön brav. Beantworten Sie einfach die Fragen. Bleiben Sie ganz ruhig. Nicht frech werden. Die Frau ist nur zu Besuch. Sie ist sehr freundlich. Kein Grund zur Sorge. Kein Grund, Fiona oder diese Anwältin zu belästigen, die sie angeheuert hat. Um so etwas geht es nicht, überhaupt nicht. Nur ein paar Fragen, und schon ist sie wieder weg.
    Die Welt ist in Nebel gehüllt, heute. Als würde ich sie durch einen Schleier sehen. Die Farben sind blass, meine Sinne taub. Der Schleier behindert meine Sicht. Es ist nicht unangenehm. Aber es kann gefährlich sein. Man meint, dass man vor den anderen verborgen ist, hinter dem Schleier, und plötzlich stellt man fest, dass sie einen die ganze Zeit sehen. Ungeschützt.
    Nicht, dass man irgendetwas getan hätte, wofür man sich schämen müsste. Oder dass man sich wünscht, etwas anders gemacht zu haben. Es ist nur die Vorstellung, was man gesagt oder getan haben könnte. Die Gefahr, der man sich ausgesetzt hat. Jetzt sitze ich am Küchentisch, dieser Fremden gegenüber. Es fühlt sich an, als wären meine Kiefer mit Drähten verschlossen. Mir fehlt die Energie, den Mund zu öffnen. Es gelingt mir kaum, die Augen offen zu halten. Schlafen. Schlafen.
    Ich erinnere mich daran, die Dusche aufgedreht zu haben. Ich erinnere mich daran, mir die Arme und Beine eingeseift zu haben. Ich erinnere mich, dass mein Nachthemd gestört hat. Aber ich konnte mir keinen Reim darauf machen. Zu langsam. Zu gleichgültig.
    Die Frau stellt mir Fragen. Es fällt mir schwer, mich zu konzentrieren.
    Wo waren Sie in der Woche des sechzehnten Februar?
    Hier. Ich bin immer hier.
    Und am fünfzehnten und sechzehnten Februar? Da waren Sie hier? Sie haben das Haus nicht verlassen?
    Mit großer Anstrengung nehme ich mein Notizheft. Ich blättere darin. 13. Februar. 14. Februar. 18.
    Die Blondine mischt sich ein.
    Wir versuchen, so genau wie möglich festzuhalten, was sie an jedem Tag tut. Sie liest gern in dem Heft, wenn es ihr nicht gut geht, wenn sie bedrückt ist. An dem Tag haben wir anscheinend nichts eingetragen. Aber wenn etwas Außergewöhnliches vorgefallen wäre, hätte ich es bestimmt notiert. Ihre Tochter besteht darauf.
    Die Frau mit den braunen Haaren nimmt mir das Heft ab. Sorgfältig blättert sie die Seiten um.
    Wie ich sehe, hat sie im Januar mehrmals das Haus verlassen.
    Ja, das tut sie hin und wieder. Ich passe

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