Ich darf nicht vergessen
Papier und legte sie zurück in die Schachtel. Nein und nein und nochmals nein. Diesmal gehst du zu weit.
Ich ging nach Hause, und es dauerte Wochen, bis ich mich so weit beruhigt hatte, dass ich wieder mit ihr reden konnte. Meine einsamen Wochen. Dann, an einem Freitagnachmittag, klopfte sie an meine Tür. Unser Nachmittag. Ich zog meine Jacke über und ging mit ihr. Die Sache war ein für allemal gegessen. Sie hatte mich um etwas gebetenâ eine demütigende Erfahrung für sie, wie ich glaubteâ, und ich hatte ihr die Bitte abgeschlagen. Es gab nichts mehr dazu zu sagen.
Und dennoch hatte das Ganze ein merkwürdiges Nachspiel. Mark ging wie geplant im Herbst zum Studieren an die Northwestern University. Da das Studentenwohnheim, in das er einzog, nur zwanzig Minuten von uns entfernt lag, war es nicht so ein einschneidender Abschied wie Fionas, als sie vier Jahre später zum Studieren nach Kalifornien zog.
Aber für ihn war es eine traumatische Erfahrung. Während der letzten Tage vor seinem Umzug war er auÃergewöhnlich fordernd. Ich brauche ein Rückenkissen. Mein Mitbewohner hat keinen Fernseher, wir müssen einen kaufen. Er verlangte sogar, dass ich Kekse für ihn backte.
Gleichzeitig hatte ich im Krankenhaus sehr viel zu tun, und ich fertigte ihn ziemlich kurz angebunden ab, wenn er mit seinen Forderungen kam. Trotzdem nahm mich das alles mehr mit, als ich erwartet hätte. Erst nachdem wir ihn in seinem Studentenheim abgeliefert hatten, fiel mir auf, dass meine Ikone nicht mehr da war. Eine kahle Stelle befand sich an ihrem Ehrenplatz in der Eingangshalle.
Ich rief sofort bei Mark an, aber er nahm nicht ab. Ich hinterlieà eine Nachricht auf seinem Anrufbeantworter und ging unruhig im Haus auf und abâ zum Telefon, um James anzurufen, zum Fenster, um auf die StraÃe zu schauen, zum Telefon, um Mark noch einmal anzurufen. Ich kam überhaupt nicht auf die Idee, dass jemand anders sie entfernt haben könnte. Mehr als einmal hatte ich Mark mit verträumtem Blick vor dem Bild stehen sehen, eine Hand ausgestreckt, als wollte er das Gesicht der Madonna streicheln. Als es an der Tür klingelte, zuckte ich zusammen. Amanda stand da, die Ikone im Arm.
Sieh mal, was gestern Morgen vor meiner Tür lag, sagte sie und hielt mir die Ikone hin.
Ich nahm sie entgegen. Meine Hände zitterten. Ich brachte kein Wort heraus.
Gestern Morgen?, krächzte ich schlieÃlich. Und wieso bringst du sie erst jetzt zurück?
Amanda sagte nichts. Sie lächelte nur. Dann beantwortete ich meine Frage selbst.
Weil du dir nicht sicher warst, ob du sie zurückgeben wolltest, sagte ich.
Amanda schien zu überlegen, was sie darauf erwidern sollte.
Marks Geste hat mich gerührt, sagte sie.
Du wolltest die Madonna haben. Unbedingt. Genauso sehr wie ich.
Ja. Ich habe dich gebeten, sie mir zu schenken. Aber du hast abgelehnt.
Stimmt. Und es war mir ernst damit. Ich streckte die Hand aus. Sie reichte mir die Ikone.
Ich schätze, ich werde auf irgendeine Weise für meine Weigerung bezahlen, sagte ich.
Ja, du wirst dafür bezahlen. Vielleicht nicht unbedingt auf eine Weise, die du dir vorstellen kannst. Aber irgendwann folgt auf solche Dinge ein Nachspiel, sagte Amanda.
Nach diesen Worten drehte sie sich um und ging. Meine beste Freundin. Meine Gegnerin. Ein Buch mit sieben Siegeln bestenfalls. Jetzt war sie fort, und ich fühlte mich schrecklich allein.
J ennifer, Sie haben einen schlechten Tag. Jennifer, Sie haben eine schlechte Woche. Jennifer, so schlimm war es noch nie, und das geht jetzt schon seit zehn Tagen so. Dr. Tsien hat das Galantamin erhöht. Er hat das Seroquel erhöht. Er hat das Zoloft erhöht.
Wenn Mark anruft, lüge ich, ich sage ihm, es geht Ihnen gut, und Sie machen gerade einen Mittagsschlaf. Oder ich gehe gar nicht erst ran, wenn ich seine Nummer auf dem Display sehe. Fiona weià Bescheid, sie kommt jeden Tag. Was für eine gute Tochter. Da haben Sie wirklich Glück. Ich werde für Sie beten. Den Rosenkranz. Ich werde zur heiligen Daphne beten, der Schutzpatronin der Geisteskranken. Oder zum heiligen Antonius, meinem Lieblingsheiligen, dem Schutzpatron der verlorenen Dinge.
Was verloren gegangen ist? Ihr armer, armer Verstand. Ihr Leben.
F iona und ich gehen zum Mittagessen aus. Chinesisch. Mein Glückskeks: Man braucht kein gutes Gedächtnis für schöne Erinnerungen. So was Verrücktes könnte man nicht
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