Ich darf nicht vergessen
auf sie auf, aber manchmal entwischt sie mir.
Ist das Mitte Februar auch vorgekommen?
Nein, im Februar nicht. Es kommt sehr selten vor, ehrlich gesagt.
Helen Tighe, die im Haus Nummer 2156 wohnt, hat beobachtet, wie sie am fünfzehnten Februar in Amanda OâTooles Haus gegangen ist. War das eine dieser seltenen Gelegenheiten?
Wir sind das doch schon mehrmals durchgegangen. Wenn es passiert ist, dann ohne mein Wissen. Sie war jedenfalls über keinen längeren Zeitraum verschwunden. Manchmal gehe ich in den Keller, um Wäsche zu waschen. Oder ich koche eine Suppe. Falls sie zu Amanda gegangen ist, dann ist sie wieder zurückgekommen, ehe ich es bemerkt habe.
Macht Ihnen das keine Sorgen?
Doch, doch, schon. Ich tue mein Bestes, wirklich. Wir haben an allen AuÃentüren Schlösser anbringen lassen, aber das bringt sie aus der Fassung und schadet mehr, als dass es nützt. Es ist besser, die Türen nicht abzuschlieÃen und sie im Auge zu behalten. Meistens ruft uns ein Nachbar an. So ist das hier in der StraÃe. Jeder kümmert sich um jeden. Wir bekommen sie immer zurück. Wir haben ein Armband anfertigen lassen, aber sie will es nicht tragen.
Und nachts?
Nachts ist noch nie etwas passiert. Ich habe gehört, dass es Patienten gibt, die man nachts anbinden muss, weil man nie weiÃ, was ihnen in den Sinn kommt. Aber bei ihr ist das nicht nötig. Sie legt sich um neun Uhr schlafen und rührt sich nicht bis um sechs Uhr früh. Man könnte glatt den Wecker danach stellen.
Die Frau mit den braunen Haaren hört gar nicht zu. Sie runzelt die Stirn. Sie betrachtet das Notizheft genauer, steckt den Zeigefinger zwischen zwei Seiten, zieht ihn wieder heraus und schaut mich an.
Hier fehlt eine Seite, sagt sie. Sie wurde nicht herausgerissen, sondern sorgfältig herausgeschnitten. Mit einer Rasierklinge oder etwas Ãhnlichem. Sie schaut mich an, rückt mit ihrem Stuhl näher an die Blondine heran und sagt leise: Sie war Ãrztin, nicht wahr? Chirurgin?
Ja.
Hat sie noch ihre Instrumente? Ihre Skalpelle?
Das glaube ich nicht. Die gehören doch dem Krankenhaus, oder? Ich habe jedenfalls hier im Haus noch nie etwas dergleichen gesehen. Und in diesem Haus gibt es nichts, das ich nicht kenne. Ich muss den Ãberblick behalten. Sonst stellt sie noch wer weià was an.
Die Blondine holt tief Luft.
Letzte Woche hat sie ihren ganzen Schmuck in den Müll geworfen. Wir haben es nur durch puren Zufall mitbekommen â ihre Tochter hat einen diamantenen Anhänger im Schnee neben der Mülltonne entdeckt. Wir haben nachgesehen, und da war ihr Ehering. Und mehrere Familienerbstücke â ein paar davon sehr wertvoll, andere hatten eher Erinnerungswert. Wir haben alles wiedergefunden, aber nach dem Vorfall sind wir das ganze Haus durchgegangen, von oben bis unten. Keine Messer. Ihre Tochter hat ein paar Schmuckstücke mitgenommen â eine Halskette, die ihrer Mutter gehört hat, und den Collegering ihres Vaters â, und den Rest haben wir in einem BankschlieÃfach in Sicherheit gebracht.
Ich mache ein Geräusch. Erst als die beiden Frauen mich ansehen, begreife ich, dass es ein Lachen ist.
Ich stehe auf. Ich gehe ins Wohnzimmer. Ich gehe zum Klavier. Zur Klavierbank. Ich klappe sie auf. Die Bank ist voll mit Krempel. Dort landen die Sachen, von denen James und ich nicht wissen, was wir damit anfangen sollen, von denen wir uns aber auch nicht trennen können. Rechnungen von Dingen, die wir vielleicht irgendwann umtauschen wollen. Griffe und Knöpfe, die von Möbeln abgefallen sind. Einzelne Socken.
Ich buddle in dem Krempel. Schiebe alte Brillen beiseite, Batterien, von denen wir nicht wissen, ob sie voll sind oder leer, alte New Yorker -Hefte. Ich grabe mich bis ganz unten vor. Und ziehe es heraus. Es ist in eine Leinenserviette eingewickelt.
Es ist mein spezieller Skalpellgriff. Glänzend. Verführerisch. Er schreit danach, benutzt zu werden. Mein Name ist darauf eingraviert und das Datum, an dem ich meine Facharztprüfung als Chirurgin abgelegt habe. Was sagt man über mich im Krankenhaus? Holen Sie eine zweite Meinung ein. Sie ist die Beste, aber sie ist arbeitswütig. Sie operiert einen Mückenstich, wenn man sie lässt.
Ein paar Plastikpäckchen fallen aus der Serviette. In jedem befindet sich eine glänzende, scharfe Klinge, bereit, in meinen Skalpellgriff geschoben zu werden. Bereit, aufzuschlitzen. Beide Frauen stehen in
Weitere Kostenlose Bücher