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Ich darf nicht vergessen

Ich darf nicht vergessen

Titel: Ich darf nicht vergessen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice LaPlante
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der Nähe und beobachten mich genau. Die Blonde schließt die Augen. Die Braunhaarige streckt die Hand aus. Die muss ich Ihnen wegnehmen, Ma’am, sagt sie. Ich fürchte, Sie müssen mit mir kommen.
    W ir sitzen im Auto. Ich sitze auf der Rückbank, hinter einem Fahrer mit kurzem braunem Haar. Ich kann nicht sehen, ob es ein Mann ist oder eine Frau. Die Hände am Lenkrad sind kräftig, fast grobschlächtig. Androgyn.
    Magdalena sitzt neben mir. Sie telefoniert. Sie redet eindringlich auf jemanden ein, dann beendet sie das Gespräch und wählt eine neue Nummer. Es ist kalt. Schnee liegt in der Luft. Aber die Bäume schlagen aus. Ich kurble das Fenster herunter und spüre die Luft im Gesicht. Ein typischer Frühling in Chicago.
    Es gefällt mir, dieses Wort zu benutzen: typisch. Gewöhnlich ist auch ein gutes. Und meistens. Alles, was relativ ist. Alles, womit man Zukünftiges mit Vergangenem vergleichen kann.
    W ir sind in einem Zimmer. Es ist leer bis auf einen Tisch und einen Stuhl– der Stuhl, auf dem ich sitze. Es ist niemand im Zimmer, den ich kenne. Vier Männer. Keine Magdalena. Mir wird etwas von einem Blatt Papier vorgelesen. Ich werde gefragt, ob ich es verstanden habe. Möchten Sie jetzt, in Kenntnis Ihrer Rechte, mit mir sprechen?
    Nein, sage ich entschieden. Ich möchte, dass mein Anwalt kommt. Es gibt einen riesigen Spiegel, der eine ganze Wand einnimmt. Abgesehen davon ist der Ort kahl, verlassen. Ein Ort, wo man auf der Hut ist.
    Ihre Anwältin ist unterwegs.
    Dann warte ich.
    Mein Skalpellgriff und die Klingen liegen in Plastiktüten auf dem Tisch. Die Männer unterhalten sich leise, aber keiner kann den Blick von den Gegenständen auf dem Tisch und von mir abwenden.
    Um mich zu zerstreuen denke ich, dass dieses Zimmer in einem Film mit Zigarettenqualm gefüllt wäre. Unrasierte, verhärmte Männer würden kalten, schlappen Kaffee aus Styroporbechern trinken. Aber diese Männer sind sauber rasiert, gut gekleidet, regelrecht elegant. Zwei trinken etwas Schaumiges aus Pappbechern. Einer hat eine Flasche mit einem Energy Drink in der Hand, der andere eine Plastikflasche mit Wasser. Niemand bietet mir etwas zu trinken an.
    An der Tür tut sich etwas, und dann kommen drei Frauen herein. Drei große, eindrucksvolle Frauen. Amazonen! Meine Tochter oder vielleicht meine Nichte. Die nette Frau, die mir hilft. Und noch eine, die ich vielleicht schon mal gesehen habe.
    Die Letzte, die, bei der ich mir am wenigsten sicher bin, streckt mir die Hand entgegen, drückt meine ganz fest und lächelt. Schön, Sie wiederzusehen, sagt sie. Auch wenn ich wünschte, es geschähe unter angenehmeren Umständen. Sie schaut mich forschend an, lächelt wieder und sagt: Joan Connor. Ihre Anwältin. Der Sie eine Menge Geld zahlen.
    Meine Tochter/Nichte kommt auf mich zu und legt mir einen Arm um die Schultern. Es ist in Ordnung, Mom, sagt sie. Sie können dir nichts tun. Wir sind hier in Amerika. Sie brauchen Beweise.
    Die dritte Frau, die Blondine, bleibt im Hintergrund stehen, in der Nähe der Tür. Sie schwitzt. Ihr Gesicht ist seltsam gerötet. Ich greife in meine Tasche, um mein Stethoskop herauszunehmen. Dann erinnere ich mich.
    Ich bin pensioniert. Ich habe Alzheimer. Ich bin auf einem Polizeirevier wegen der Klingen. Mehr gibt mein Gehirn nicht preis. Mein krankes Gehirn. Und doch habe ich mich noch nie so hellwach gefühlt. Ich bin zu allem bereit. Ich lächle meine Tochter/Nichte an, aber sie erwidert mein Lächeln nicht.
    Die Anwältin wendet sich an die Männer. Vorher hatten sie lässig irgendwie im Raum verteilt gestanden, doch jetzt sind sie zusammengerückt, beinahe Schulter an Schulter, ihre Getränke auf dem Tisch vergessen. Männer auf der Hut. Vor dem Feind.
    Wollen Sie gegen Dr. White Anklage erheben?
    Wir haben nur ein paar Fragen. Sie hat sich geweigert, mit uns zu reden.
    Das ist ihr gutes Recht.
    Genau das haben wir ihr erklärt. Können wir jetzt beginnen?
    Meine Anwältin nickt. Bitte besorgen Sie noch ein paar Stühle.
    Die Männer rühren sich, zwei verlassen das Zimmer und kommen mit vier metallenen Klappstühlen zurück, ein weiterer bringt zwei Becher mit Wasser. Ohne ein Wort reicht er einen mir, einen der jungen Frau.
    Die Anwältin nimmt zu meiner Rechten Platz, meine Tochter/Nichte zu meiner Linken. Sie legt mir wieder einen Arm um die Schultern. Die Blondine steht

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