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Ich darf nicht vergessen

Ich darf nicht vergessen

Titel: Ich darf nicht vergessen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice LaPlante
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du James’ Tod verwinden? Wie oft werde ich mich von dir verabschieden und erleben müssen, dass du plötzlich wieder auftauchst wie Christus, der von den Toten auferstanden ist? Ja, besser wäre es, die Brücken einzureißen, damit ich sie nicht immer und immer wieder überqueren muss, bis mein Herz vor lauter Erschöpfung stehen bleibt.
    I ch führe eine komplizierte Armplexus-Operation durch, da die Läsionen alle Nervenwurzeln betreffen. Der Patient (die Patientin?) ist unter Vollnarkose. Sein (ihr?) Gesicht ist bedeckt.
    Es läuft nicht gut. Ich versuche eine Nervenverpflanzung im Plexus, indem ich die noch mit dem Rückenmark verbundenen Nervenwurzeln als Ersatz für die abgetrennten Nerven verwende. Aber ich passe nicht auf und verletze die Schlüsselbeinarterie. Entsetzliche Mengen Blut. Ich drücke die Arterie ab und rufe nach dem Gefäßchirurgen, aber es ist zu spät.
    Ich denke an die Gesichter der Angehörigen im Wartezimmer. Und ich denke unwillkürlich und beschämenderweise an die Anwälte, an die interne Krankenhausermittlung, die unweigerlich erfolgen wird. An den lästigen Papierkram, den große und kleine Fehler nach sich ziehen.
    Dann ereignet sich eine Art seismographische Verschiebung, und ich bin nicht mehr im OP . Kein anästhesierter Patient auf dem Tisch. Stattdessen schaue ich auf ein Bett mit zerwühlten, geblümten Laken hinunter. Ich schwitze immer noch, in meiner Brust spüre ich immer noch ein unregelmäßiges Pochen, aber meine Hände stecken nicht mehr in gummiartigen Handschuhen, sie halten keine scharfen Instrumente mehr. Es ist ein großes Bett mit einem Rahmen aus Eichenholz. Eine passende Kommode. Ein aufwendig gemusterter, roter Orientteppich. Nichts, was mir bekannt vorkommt.
    Ich will zurück in den OP mit den beruhigenden grünen Wänden, mit den Instrumenten aus Edelstahl, die sich vergrößert in den hohen Edelstahlschränken spiegeln. Wo alles genau an seinem Platz ist. Aber das hier. Dieses reich möblierte, unsterile Zimmer. Hier fühle ich mich unwohl. Ich möchte mir die Hände waschen, mir OP -Kleidung anziehen, es noch einmal versuchen. Ich schließe die Augen, doch als ich sie wieder öffne, befinde ich mich immer noch im selben Zimmer.
    Dann höre ich Stimmen. Mühsam suche ich die Tür. Ich muss jeden Zentimeter der Wände gründlich abtasten, bis ich die Tür endlich entdecke. Draußen ein langer Flur mit tiefroten Wänden, an denen lauter Fotos hängen. Am Ende des Flurs geht es nach unten. Weiches, plüschiges, mit blauen und grünen Blumen gemustertes Material unter meinen Füßen, darunter Parkett.
    Ich gehe vorsichtig, beobachte meine Füße und halte mich an einem langen Stück Holz fest. Ich gehe nach unten und zähle. Zwanzig Mal strecke ich meinen rechten Fuß aus und setze ihn auf eine weiter unten liegende Oberfläche. Zwanzig Mal bringe ich meinen linken Fuß neben meinen rechten. Und dann wieder von vorne. Die Stimmen werden lauter, je weiter ich nach unten gehe. Ich höre Gelächter. Ich höre meinen Namen. Ich werde mich vorsehen.
    Es sind zwei, ein Mann und eine Frau. Sie sitzen im Wohnzimmer auf dem Sofa. Die Frau hat schulterlanges, gelbes Haar, offensichtlich gefärbt. Es steht ihr nicht. Sie ist korpulent. Ihre Hose sitzt zu eng, um bequem zu sein, ich sehe, wie der oberste Knopf ihr in den Bauch schneidet.
    Der Mann steht auf, als er mich sieht. Ein älterer Mann. Ein alter Mann. Er breitet die Arme aus. Jenny!, sagt er und umschlingt mich mit den Armen. Er riecht gut. Sein kariertes Hemd schmiegt sich weich an meine Wange, aber sein Bart kratzt. Schneeweißes Haar mit einer kahlen Stelle in der Mitte. Ein grauer Bart, kein weißer. Neben dem weißen Haar wirkt der Bart schmutzig und lässt den Mann leicht schäbig wirken.
    Freuen Sie sich denn nicht, Ihren alten Freund Peter wiederzusehen?, fragt mich die blonde Frau.
    Doch, doch, sage ich und lächle. Peter. Wie geht es dir? Ich lege Wärme in meine Stimme. Ich zwinge mich sogar, seine Hand anzunehmen. Man muss gewieft sein. Man muss mitspielen.
    Gut, gut, sagt er. Ich genieße die Sonne. Wie du weißt, habe ich den Winter in Chicago nie gemocht. Aber dieser scheint ja so gut wie vorbei zu sein. Komm, setz dich. Hier. Er zieht einen beigefarbenen Sessel heran, und ich lasse mich in seine Weichheit sinken. Wieder nimmt er meine Hand.

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