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Ich darf nicht vergessen

Ich darf nicht vergessen

Titel: Ich darf nicht vergessen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice LaPlante
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Unterricht vorbereiten. Ich kann es immer noch nicht fassen, dass ich seit zwölf Jahren kein Klassenzimmer mehr betreten habe, keinen in Tränen aufgelösten Zwölfjährigen trösten und keine aufgebrachten Eltern besänftigen musste. Es kommt mir vor, als wäre es gestern gewesen. Wie oft haben wir früher unsere Eltern und Großeltern ausgelacht, wenn sie diesen Satz gesagt haben. Und dir kommt es nicht einmal so vor, als wäre es gestern gewesen, sondern heute. Jetzt.
    Jedenfalls haben wir uns Hummus und Baba Ghanoush gekauft und sind langsam zum Park spaziert. In der Nähe des Zoos haben wir eine leere Bank gefunden. Es war ein herrlicher Tag. Im Park wimmelte es von Joggern, Kleinkindern und Hunden.
    Ein ambitionierter junger Vater trug ein Kleinkind auf dem Rücken, hatte sich die Hundeleine an den Gürtel gebunden und half seinem vierjährigen Sprössling, einen Drachen fliegen zu lassen. Du warst dir deines Zustands nicht so bewusst, wie ich es schon bei anderen Gelegenheiten erlebt habe. Du schienst nichts von deiner Krankheit zu wissen. Interessant, wie diese Selbsterkenntnis kommt und geht. Aber du warst heute so gut in Form, dass es nicht zu einem Problem wurde.
    Vielleicht wolltest du deswegen in der Vergangenheit verweilen. Ich bekam eine Ahnung – nur eine vage Ahnung – davon, wie es sich anfühlen muss, als du, den Plastikbehälter mit dem Tabbouleh in der Hand, einen Plastiklöffel hochgehalten und gefragt hast: Soll ich das hier benutzen?
    Wir haben über Peter und James gesprochen, aber nur beiläufig, haben uns wie üblich über ihre Marotten beklagt. Was Frauen halt so machen, wenn sie sich eigentlich nichts zu erzählen haben, doch gern ihre eigenen Stimmen hören. Zuerst ich, dann du, dann wieder ich. So befriedigend wie ein guter Volley beim Tennis.
    Ausnahmsweise habe ich dich diesmal nicht auf die Wahrheit hingewiesen. Normalerweise mache ich das immer – darüber gerate ich jedes Mal mit Fiona in Streit –, aber ich musste mich selbst immer wieder korrigieren, wenn ich mal wieder in die Vergangenheitsform gerutscht war. Ja, James hatte etwas von einem Dandy. Nein, es war gar nicht so schwer, mit Peter auszukommen.
    Nur einmal wurden wir in unserer angenehmen Trägheit gestört. Ein Tier im Zoo stieß plötzlich einen Schrei aus. Ich weiß gar nicht, was für ein Tier es war – ein Elefant? Eine Raubkatze? Eigentlich klang es wie ein Klagelaut, der nur ganz kurz andauerte, aber du hast dich schrecklich aufgeregt.
    Gib dem Kind die Decke zurück!, hast du so laut geschrien, dass sich alle nach uns umdrehten.
    Ich habe mich dermaßen erschrocken, dass ich meinen Becher fallen gelassen und mir meine Cola über die Hose geschüttet habe. Du hattest deinen Aufschrei offenbar schon vergessen, kaum dass du den Mund wieder zugemacht hast. Ich musste daran denken, dass Magdalena immer erzählt, wie plötzlich deine Stimmungen sich ändern können. So etwas hatte ich noch nie erlebt. Du befindest dich derzeit entweder in einem etwas besseren oder in einem etwas schlechteren Zustand.
    Ich weiß, dass du öfter diese Anfälle hast, wie alle es nennen. Ich sage Magdalena und Fiona immer wieder, sie sollen mich anrufen, wenn sie Hilfe brauchen. Bisher haben sie das nicht getan. Ich habe das Gefühl, dass da Besitzansprüche im Spiel sind, dass es um Konkurrenz geht.
    Auf jeden Fall hat dieser Tag mir noch einmal bewusst gemacht, wie man sich allmählich an Tragödien gewöhnt. Denn das, was mit dir passiert, meine alte Freundin, ist eine Tragödie.
    Ich bin sehr egoistisch: Was dieses Thema betrifft, tut es mir für mich selbst mehr leid als für dich. Irgendwann wirst du gar nicht mehr wissen, was mit dir los ist, und die Krankheit wird dafür sorgen, dass du nicht mehr leidest. Aber ich? Dieser kleine Ausflug hat mir klargemacht, wie viel Betäubung ich brauchen werde. Wie das Beruhigungsmittel, das sie einem verabreichen, bevor die große Spritze kommt. Nichts von dem, was ich getan habe, um mich darauf vorzubereiten, wird den Trennungsschmerz betäuben können, der auf mich zukommt.
    Das Ende meiner Ehe ist nichts im Vergleich zum Ende unserer Freundschaft – wenn man es denn so nennen kann. Es ist so schlimm, dass ich in Versuchung bin, die Brücke einzureißen und dich auf der anderen Seite stehen zu lassen. Zu viele Abschiede liegen vor uns. Wie oft musstest

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